
Quelle: LiveScience.com
Eine neue, im renommierten Fachjournal The Lancet veröffentlichte Studie zeichnet ein erschütterndes Bild der COVID-19-Pandemie: Die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit sank in nur zwei Jahren um 1,6 Jahre – ein historischer Einschnitt in einer Entwicklung, die seit Jahrzehnten nur eine Richtung kannte: nach oben.
Ein beispielloser Rückschlag
Seit 1950 erlebte die Menschheit eine stetige Verbesserung der Lebenserwartung. Von durchschnittlich 49 Jahren kletterte sie auf beeindruckende 73,4 Jahre im Jahr 2019. Doch dann kam die Pandemie und kehrte diesen historischen Trend um. Zwischen 2019 und 2021 – den ersten beiden Jahren der Pandemie, in denen auch die Sterblichkeitsraten ihren Höhepunkt erreichten – fiel die globale Lebenserwartung auf unter 71,8 Jahre.
“Für Erwachsene weltweit hatte die COVID-19-Pandemie tiefgreifendere Auswirkungen als jedes andere Ereignis der letzten fünfzig Jahre, einschließlich Konflikten und Naturkatastrophen”, erklärt Studienleiter Austin Schumacher, Professor für Gesundheitsmetrische Wissenschaften an der University of Washington in Seattle.
Diese nüchterne Statistik verbirgt eine erschütternde menschliche Tragödie: In den Jahren 2020 und 2021 starben etwa 16 Millionen Menschen entweder direkt an COVID-19 oder an den indirekten Folgen der globalen Krise, wie verzögerte medizinische Behandlungen bei anderen Erkrankungen.
Große regionale Unterschiede
Besonders beunruhigend: In 84% der 204 untersuchten Länder und Territorien sank die Lebenserwartung – ein deutliches Zeichen für die verheerende Wirkung neuartiger Krankheitserreger auf globaler Ebene.
Die Auswirkungen der Pandemie trafen jedoch nicht alle Regionen gleich stark:
- Am härtesten getroffen wurden Peru und Bolivien, die über alle Altersgruppen hinweg die größten Einbußen bei der Lebenserwartung verzeichneten. Auch Mexiko-Stadt erlitt im Vergleich zu anderen Teilregionen einen besonders starken Rückgang.
- Relative Ausnahmen bildeten 32 Länder, die trotz der globalen Krise einen Anstieg der Lebenserwartung verzeichnen konnten – darunter vor allem wohlhabende Nationen wie Australien, Neuseeland, Japan, Island, Irland und Norwegen.
- Besonders dramatisch war die Lage in den südafrikanischen Provinzen KwaZulu-Natal und Limpopo, die einige der höchsten Übersterblichkeitsraten und größten Lebenserwartungsrückgänge weltweit verzeichneten.
Die Forscher stellten fest, dass die Aufschlüsselung nach Altersgruppen ein differenzierteres Bild ergibt. In Regionen mit einer relativ jungen Bevölkerung kann die Gesamtlebenserwartung die wahren Auswirkungen auf ältere Menschen verschleiern. Erst eine altersspezifische Analyse zeigt das volle Ausmaß der Pandemie in Ländern wie Jordanien und Nicaragua, wo die Übersterblichkeit zuvor durch die Betrachtung aller Altersgruppen zusammen verdeckt worden war.
Unterschiedliche Auswirkungen auf Altersgruppen
Die Studie offenbart einen markanten Unterschied in der Betroffenheit verschiedener Altersgruppen:
- Bei Erwachsenen über 15 Jahre stieg die Sterblichkeit dramatisch an – um 22% bei Männern und 17% bei Frauen.
- Die Kindersterblichkeit sank dagegen während der Pandemie weiter um 7%, mit einer halben Million weniger Todesfällen bei Kindern unter 5 Jahren im Jahr 2021 im Vergleich zu 2019.
“Unsere Studie zeigt, dass wir trotz des schrecklichen Verlusts an Menschenleben während der Pandemie seit 1950 unglaubliche Fortschritte gemacht haben, wobei die Kindersterblichkeit weltweit weiter gesunken ist”, betont Co-Studienleiterin Hmwe Kyu, außerordentliche Professorin für Gesundheitsmetrische Wissenschaften an der University of Washington.
Dennoch bestehen nach wie vor große regionale Unterschiede bei den Kindersterblichkeitsraten, mit den höchsten Werten in Südasien und Afrika südlich der Sahara – selbst nach Berücksichtigung der AIDS-Epidemie in diesen Regionen.
Was bedeutet das für Long-COVID-Betroffene?
Für uns als Community von Long-COVID- und ME/CFS-Betroffenen sind diese Zahlen besonders alarmierend. Sie unterstreichen einmal mehr die beispiellose Schwere der Pandemie und ihre langfristigen Folgen für die globale Gesundheit.
Wenn bereits die akute Sterblichkeit solch dramatische Auswirkungen auf die Lebenserwartung hatte, müssen wir uns fragen: Welchen zusätzlichen Einfluss werden die Millionen von Long-COVID-Fällen auf die Gesundheitssysteme und die Lebensqualität der Betroffenen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten haben?
Die aktuelle Studie betrachtet primär die unmittelbaren Todesfälle durch COVID-19 und indirekte Folgen wie verzögerte Behandlungen. Die langfristigen gesundheitlichen Einschränkungen durch Post-COVID-Syndrome wie ME/CFS sind darin noch nicht abgebildet – ein Aspekt, der die tatsächlichen gesellschaftlichen Kosten der Pandemie noch weiter erhöhen dürfte.
Lehren für die Zukunft
Die dramatischen Einschnitte in die globale Lebenserwartung sollten ein Weckruf für Gesundheitssysteme weltweit sein. Sie verdeutlichen:
- Die Verwundbarkeit unserer globalen Gesundheitssysteme gegenüber Pandemien
- Die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit bei der Bewältigung von Gesundheitskrisen
- Die Notwendigkeit verstärkter Forschung nicht nur zur Prävention akuter Erkrankungen, sondern auch zu deren Langzeitfolgen
Die erheblichen Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern und Regionen zeigen zudem, dass gezielte Maßnahmen und angemessene Ressourcen einen entscheidenden Unterschied machen können – eine Erkenntnis, die auch für den Umgang mit Long COVID und ME/CFS von zentraler Bedeutung ist.
Unser Fazit
Die neuen Daten zur gesunkenen Lebenserwartung verdeutlichen einmal mehr: Die COVID-19-Pandemie war und ist ein historisches Gesundheitsereignis, dessen Auswirkungen wir noch viele Jahre spüren werden – nicht nur durch die bereits verlorenen Leben, sondern auch durch die anhaltenden gesundheitlichen Einschränkungen der Überlebenden.
Für unsere Community unterstreicht dies die Dringlichkeit unserer Anliegen. Die Pandemie hat nicht nur unmittelbare Opfer gefordert, sondern hinterlässt auch Millionen Menschen mit langfristigen Gesundheitsschäden, die dringend Anerkennung, Unterstützung und medizinische Lösungen benötigen.
In einer Zeit, in der manche bereits zur “Normalität” zurückkehren möchten, erinnern uns diese Zahlen daran, dass wir noch lange nicht am Ende der Pandemiefolgen angelangt sind. Für viele von uns hat der Kampf gerade erst begonnen – ein Kampf, den wir gemeinsam führen müssen.
In diesem Sinne: Bleiben wir verbunden, bleiben wir informiert – und geben wir niemals auf. Denn du bist nicht allein, ich bin kein Einzelfall.
Quelle: Studie veröffentlicht im Fachjournal The Lancet am 12. März 2024