“Wer in der Schweiz an Long Covid erkrankt, wird finanziell ruiniert” – Ein Gespräch mit Chantal Britt

Quelle: pszeitung.ch

Fünf Jahre nach den ersten Corona-Massnahmen sind viele Betroffene immer noch krank und kämpfen nicht nur mit den Symptomen, sondern auch mit Unverständnis und finanzieller Not.

Chantal Britt: “Der Aufwand, um ernstgenommen und von Ärzt:innen diagnostiziert zu werden, ist enorm.”

Die anhaltende Pandemie für Long Covid-Betroffene

Während die meisten Menschen in der Schweiz die Pandemie als abgeschlossen betrachten, sieht die Realität für tausende Long Covid-Betroffene ganz anders aus. “Für uns ist die Pandemie definitiv nicht vorbei,” erklärt Chantal Britt, Präsidentin der Patientenorganisation Long Covid Schweiz, in einem kürzlich geführten Interview mit Gian Hedinger. Fünf Jahre nach ihrer eigenen Infektion und dem Beginn der Pandemie ist ihr Leben noch immer von den Folgen geprägt.

Diese anhaltende gesundheitliche Krise bleibt für viele unsichtbar. Die Betroffenen kämpfen nicht nur mit den körperlichen Symptomen von Long Covid, sondern auch mit einem System, das ihnen oft nicht die notwendige Unterstützung bietet. Die finanziellen und sozialen Folgen sind verheerend – ein Problem, das dringend mehr öffentliche Aufmerksamkeit benötigt.

Der Beginn einer unerwarteten Reise

Chantal Britts persönliche Geschichte mit Long Covid begann Anfang März 2020, kurz bevor die ersten Corona-Massnahmen in der Schweiz implementiert wurden. Bei einem Chorkonzert ihrer Tochter husten gehört, wenige Tage später litt sie selbst unter Husten und Halsschmerzen. Der entscheidende Moment kam am 16. März, als sie mit dem Fahrrad ins Büro fuhr, um ihren Laptop zu holen:

“Bei der Steigung ging plötzlich nichts mehr, ich musste absteigen und setzte mich auf den Boden, meine Kraft war weg, meine Lungen brannten, mein Herz raste, und mir war schwindlig. An diesem Tag bin ich zum letzten Mal Velo gefahren.”

Als sportliche, zuvor nie ernsthaft kranke Person, konnte sie sich nicht vorstellen, dass diese Symptome langfristig anhalten könnten. Auch ihr Arzt beruhigte sie, dass alles wieder gut werden würde. Doch die Besserung blieb aus.

Nach drei Monaten erlebte sie ihre erste Krise, mit Symptomen, die sich wie ein Herzinfarkt anfühlten. Nach sechs Monaten begann sie sich ernsthaft zu fragen: “Was, wenn das jetzt bleibt? Was, wenn ich chronisch krank bin?” Trotzdem war sie zunächst überzeugt, dass sie durch Sport, gesunde Ernährung und eine positive Einstellung genesen würde.

Diese Erfahrung teilen viele Long Covid-Betroffene in ihren persönlichen Geschichten – der anfängliche Unglaube, dass die Symptome bestehen bleiben könnten, gefolgt von der langsamen, oft schmerzhaften Erkenntnis einer chronischen Erkrankung.

Die Gründung von Long Covid Schweiz: Eine Bewegung von unten

Der Wendepunkt kam für Britt bei einem Besuch bei ihrer Mutter in Südfrankreich. Als sie mit ihrer Tochter und ihrer Mutter in einem Café sass und alle drei komplett erschöpft waren, realisierte sie, dass es kein Zufall sein konnte. Sie begann, sich zu fragen, wie vielen anderen Menschen es ähnlich ging.

Dies führte zur Gründung der Facebook-Gruppe Long Covid Schweiz. Was als informeller Austausch begann, entwickelte sich schnell zu einer offiziellen Patientenorganisation. Dieser Prozess war für Britt “wirklich ein demokratisierender und bestärkender Prozess” – ein Weg, um aktiv zu werden, anstatt auf offizielle Stellen wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zu warten.

Diese Selbstorganisation von Betroffenen ist ein wichtiger Aspekt der Long Covid-Bewegung. Unsere Community bietet ähnliche Unterstützungsnetzwerke, in denen sich Betroffene austauschen, gegenseitig helfen und gemeinsam für ihre Rechte eintreten können. Dieser Zusammenschluss ist besonders wichtig bei einer Erkrankung, die von offiziellen Stellen oft zu wenig ernst genommen wird.

Die institutionelle Vernachlässigung

In ihrem Interview übt Britt scharfe Kritik an den zuständigen Schweizer Behörden. Das BAG schiebt laut Britt die Verantwortung auf die Kantone und bezeichnet die Versorgung von Long Covid-Patient:innen als adäquat, ohne die Betroffenen selbst zu ihrer Situation zu befragen.

Noch problematischer sei die Situation beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV): “Die Invalidenversicherung (IV) schrieb, sie werde durch Long Covid ‘nicht belastet’. Das ist logisch, wenn man uns keine IV-Renten auszahlt.”

Besonders alarmierend ist die Diskrepanz, die Britt aufzeigt: 9 von 10 Menschen, die sich mit Long Covid für die IV anmelden, werden als nicht arbeitsfähig eingestuft. Dennoch erhalten nur 12 Prozent eine IV-Rente. Dies bedeutet, dass zahlreiche Menschen von der IV als gesund eingestuft werden, obwohl sie faktisch arbeitsunfähig sind.

Diese institutionelle Vernachlässigung führt dazu, dass viele Long Covid-Betroffene in finanzielle Not geraten. Ohne Arbeitsfähigkeit und ohne ausreichende Unterstützung durch die Sozialversicherungen sehen sich viele gezwungen, zu ihren Eltern zurückzuziehen oder sich auf andere Weise durchzuschlagen.

Die Unsichtbarkeit und Stigmatisierung

Warum wird Long Covid nicht ernst genommen? Britt identifiziert mehrere Faktoren:

  1. Geschlechtsspezifische Diskriminierung: “Long Covid betrifft vor allem Frauen, und Krankheiten, die mehrheitlich Frauen betreffen, sind schlechter erforscht und werden weniger ernst genommen.”
  2. Doppelte Unsichtbarkeit: “Man sieht den Erkrankten Long Covid nicht an, und die schweren Fälle sind auch unsichtbar. Wenn Menschen den ganzen Tag im Bett verbringen, sieht man sie nicht und kann sie ignorieren.”
  3. Stigmatisierung chronischer Krankheiten: “Es ist die Art, wie wir mit gewissen chronischen Krankheiten umgehen. Sie werden stigmatisiert, ausgegrenzt, bagatellisiert und auf die Psyche geschoben.”

Diese Probleme sind nicht auf Long Covid beschränkt, sondern betreffen auch andere chronische Erkrankungen, insbesondere ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom). Laut Britt erfüllen bis zur Hälfte der Long Covid-Erkrankten nach sechs Monaten die Kriterien für ME/CFS, eine Erkrankung, die bereits vor der Pandemie rund 20.000 Menschen in der Schweiz betraf.

Diese Verbindung zwischen Long Covid und ME/CFS ist ein zentrales Thema für Betroffene und Patient:innenorganisationen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass 1 von 22 COVID-Betroffenen ME/CFS entwickelt, was die Dringlichkeit einer besseren Versorgung und Forschung in diesem Bereich unterstreicht.

Die Therapie-Situation: Mangelhafte Versorgung und finanzielle Belastungen

Die therapeutische Versorgung von Long Covid-Patient:innen in der Schweiz ist laut Britt unzureichend. Zwar gibt es spezialisierte Sprechstunden und “eine Handvoll Ärzt:innen, die wirklich einen super Job machen”, doch die Wartelisten sind lang und viele Sprechstunden haben einen Aufnahmestopp verhängt.

Erschwerend kommt hinzu, dass es keine heilende Behandlung gibt, sondern lediglich Therapien zur Linderung einzelner Symptome. Während in Deutschland und Österreich sogenannte Off-Label-Therapien verschrieben werden, übernehmen die Schweizer Krankenkassen die Kosten dafür nicht.

Die Folge ist verheerend: “Wer in der Schweiz an Long Covid erkrankt, wird finanziell ruiniert.” Betroffene müssen Crowdfunding-Kampagnen starten, um sich Therapien leisten zu können, oder leben am Existenzminimum. “Viele haben am Ende noch wenige hundert Franken pro Monat, wovon sie knapp die Prämie für die Krankenkasse bezahlen können, die nicht einmal die Therapien bezahlt, die sie brauchen.”

Die Verzweiflung ist so groß, dass sich viele Betroffene bei Sterbehilfeorganisationen wie Exit anmelden, weil sie keine Perspektive mehr sehen. “Sie wollen zwar leben und behandelt werden, aber es hilft ihnen ja niemand”, erklärt Britt.

Die persönlichen Schicksale hinter den Statistiken

Hinter diesen Zahlen und Beschreibungen stehen reale Menschen mit zerstörten Lebensplänen, verlorenen Karrieren und alltäglichen Kämpfen. Persönliche Berichte von Long Covid und ME/CFS-Betroffenen zeigen, wie tiefgreifend diese Erkrankungen das Leben verändern können.

Für viele beginnt der Tag nicht mit der Frage, was sie erreichen wollen, sondern ob sie überhaupt die Kraft haben werden, aufzustehen. Alltägliche Aufgaben wie Duschen oder Kochen können zu unüberwindbaren Hürden werden. Soziale Kontakte brechen oft ab, weil die Energie für Treffen fehlt oder Freunde das Verständnis für die anhaltenden Einschränkungen verlieren.

Gleichzeitig müssen Betroffene um Anerkennung und Unterstützung kämpfen – ein Kampf, der selbst schon Kraft kostet, die sie nicht haben. Der “Teufelskreis aus Erkrankung, Invalidität, finanzieller Not und fehlendem Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung”, wie es ein Betroffener beschreibt, kann erdrückend sein.

Politische Forderungen und Zukunftshoffnung

Trotz aller Widrigkeiten gibt Chantal Britt nicht auf. Ihr aktuelles Ziel ist politische Anerkennung: “Im Moment wünsche ich mir, dass die Politik das Problem sieht und anerkennt.” Sie verweist auf eine im Nationalrat hängige Motion, die eine nationale Strategie im Umgang mit Long Covid, ME/CFS und PostVac fordert. “Das wäre ein wichtiger erster Schritt.”

Langfristig hofft sie auf eine Lösung mit den Sozialversicherungen, damit Betroffene nicht länger alleine gelassen werden. Diese politische Arbeit ist mühsam und langsam, aber notwendig, um systemische Veränderungen zu erreichen.

Die kleinen Zeichen der Solidarität geben ihr dabei Kraft. Als das Interview auf einen Sticker mit der Aufschrift “Long Covid isch real. D Pandemie isch für eus nonig verbi. Mir sind immer no krank. Vergessed eus nöd” zu sprechen kommt, zeigt sich Britt berührt: “Ich freue mich wahnsinnig über jeden solchen Sticker. […] So ein Sticker ist für mich, als hätte jemand Guerilla Gardening gemacht und eine Blume gepflanzt, die mir zeigt, dass ich nicht alleine bin.”

Was kann getan werden?

Für von Long Covid und ME/CFS Betroffene ist der Weg oft einsam und schwierig. Doch es gibt Möglichkeiten, Unterstützung zu finden und sich zu engagieren:

  1. Gemeinschaft findenDu bist kein Einzelfall. Der Austausch mit anderen Betroffenen kann emotionale Unterstützung bieten und praktische Tipps zur Bewältigung des Alltags liefern.
  2. Informiert bleiben: Aktuelle Forschungsergebnisse und Behandlungsansätze kennen zu lernen kann helfen, besser mit Ärzten zu kommunizieren und fundierte Entscheidungen zu treffen.
  3. Politisches Engagement: Auch kleine Beiträge zur Bewusstseinsbildung und Advocacy können wichtig sein, sei es durch das Teilen persönlicher Geschichten oder die Unterstützung von Patientenorganisationen.
  4. Professionelle Hilfe suchen: Trotz aller Hindernisse gibt es Ärzt:innen und Therapeut:innen, die Long Covid und ME/CFS ernst nehmen und helfen können, zumindest einzelne Symptome zu lindern.
  5. Unserer Gemeinschaft beitreten: Gemeinsam sind wir stärker und können mehr bewirken als alleine.

Ein Weckruf für die Gesellschaft

Das Interview mit Chantal Britt ist nicht nur ein persönlicher Einblick in das Leben mit Long Covid, sondern auch ein dringender Weckruf an die Gesellschaft und die Politik. Es zeigt die Kluft zwischen der offiziellen Darstellung der Pandemie als überwunden und der Realität von tausenden Menschen, für die die Folgen weiterhin allgegenwärtig sind.

“Wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich auch, dass 95 Prozent eben nicht betroffen sind. Für euch geht das Leben weiter. Viele wollen nichts mehr von Covid hören, und ich verstehe das”, erklärt Britt. Diese Diskrepanz zwischen der Mehrheitsgesellschaft, die zur Normalität zurückgekehrt ist, und den Betroffenen, die weiterhin leiden, verschärft das Gefühl der Isolation.

Doch gerade in dieser Situation ist Solidarität besonders wichtig. Das Anerkennen der Existenz und der Schwere von Long Covid und ME/CFS ist ein erster Schritt. Die Bereitschaft, zuzuhören und zu verstehen, ein zweiter. Und das Eintreten für angemessene medizinische Versorgung und soziale Absicherung ein dritter.

Denn wie Chantal Britt und viele andere Betroffene zeigen: Long Covid ist real. Die Pandemie ist für sie noch nicht vorbei. Sie sind immer noch krank. Vergessen wir sie nicht.


Dieser Artikel basiert auf einem Interview mit Chantal Britt, Präsidentin der Patientenorganisation Long Covid Schweiz, geführt von Gian Hedinger am 21.03.2025.

Wenn du selbst von Long Covid oder ME/CFS betroffen bist oder jemanden kennst, der betroffen ist, findest du auf unserer Website weitere Informationen und Unterstützungsmöglichkeiten. Du bist nicht allein. Hier kannst du mehr über unsere Mitgliedschaftsoptionen erfahren.

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