Wenn die Krankheit bleibt: Long Covid und ME/CFS – Ein Bericht aus erster Hand

Ich war gesund, aktiv und voller Energie – bis Covid-19 alles veränderte. Was als akute Infektion begann, wurde zum dauerhaften Albtraum. Ich bin einer von schätzungsweise 300’000 Menschen in der Schweiz (etwa jede 30. Person), die an Long Covid leiden. Diese neue Volkskrankheit bringt über 200 verschiedene Symptome mit sich – von chronischer Erschöpfung und „Gehirnnebel“ bis zu Atemproblemen, Herzrasen oder Geruchsverlust. Long Covid kann nach milden wie schweren Verläufen auftreten und trifft Menschen jeden Alters. Selbst zuvor kerngesunde, sportliche Personen finden sich plötzlich in einem Leben mit dauerhaften Beschwerden wieder. Nichts ist mehr wie zuvor.

Ein Leben auf den Kopf gestellt

Auch bei mir hat Long Covid innerhalb von Wochen mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt. Vor meiner Erkrankung war ich berufstätig, liebte es, Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen und Sport zu treiben. Eine Zeit lang konnte ich kaum 30 Minuten am Stück auf sein – an Arbeit ist nicht zu denken . Meine Welt ist geschrumpft auf die vier Wände meines Zimmers. Jeder Tag ist ein Kampf, nicht nur gegen die körperlichen Symptome, sondern auch gegen das Gefühl, von der Welt vergessen zu werden. Isolation ist zur schwersten Last geworden: Wenn selbst das Aufstehen zur unüberwindbaren Herausforderung wird, schrumpft die Welt auf ein paar Quadratmeter, und die Stimmen von außen werden immer leiser .

Dieser Bericht verbindet meine persönlichen Erfahrungen mit dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand(Stand März 2025). Er soll zeigen, was Long Covid und das verwandte ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) wirklich bedeuten – körperlich wie sozial. Vor allem aber möchte ich eines deutlich machen: Diese Krankheiten sind nachweislich körperlicher Naturkeine Einbildung oder psychosomische Marotte. Wer daran leidet, ist nicht „verrückt“ oder einfach nur gestresst, sondern schwer krank.

Unsichtbare Symptome – reale Qualen

Long Covid und ME/CFS manifestieren sich in vielfältigen, oft unsichtbaren Symptomen, die jedoch sehr real und lebensbestimmend sind. Am schlimmsten ist die Fatigue – eine allumfassende, krankhafte Erschöpfung. Ich fühle mich, als hätte ich einen Marathon ohne Training absolviert, aber Schlaf bringt keine Erholung . Schon geringe Anstrengungen führen zum sogenannten Post-Exertional Malaise (PEM): jede körperliche oder mentale Überforderung rächt sich mit einem Zusammenbruch, der Tage oder Wochen anhält . „Es ist, als würde mein Körper bei der kleinsten Anstrengung aufgeben. Einmal Staubsaugen oder Duschen kann mich völlig lahmlegen“, beschreibt ein Betroffener treffend . Diese extreme Belastungsintoleranz macht Alltägliches nahezu unmöglich. Viele Long-Covid-Patienten – einschließlich mir – sind dadurch praktisch an Haus und Bett gefesselt.

Hinzu kommt der „Brain Fog“, die kognitive Nebelwand. Konzentrationsstörungen, Wortfindungsprobleme und Gedächtnislücken lassen einen fühlen, als wäre das Gehirn in Watte gepackt . Früher fielen mir komplexe Aufgaben leicht – heute strengt es mich an, einem einfachen Gespräch zu folgen oder eine E-Mail zu schreiben. Rund 60% der Long-Covid-Betroffenen in einer IV-Statistik gaben an, unter solchen kognitiven Störungen zu leiden. Ich selbst habe erlebt, wie ich mitten im Satz den Faden verliere oder Dinge vergesse, die ich Minuten zuvor gehört habe. Dieses „Gehirnnebel“-Gefühl ist mehr als normale Vergesslichkeit – es raubt einem die Fähigkeit zu arbeiten und selbstverständliche Dinge zu erledigen.

Dazu kommen bei vielen Atemprobleme und Herz-Kreislauf-Beschwerden: Kurzatmigkeit schon bei kleinster Anstrengung, Enge in der Brust, Herzrasen und Schwindel . Manche entwickeln ein POTS-Syndrom (posturale Tachykardie), bei dem der Kreislauf beim Aufstehen verrückt spielt – auch das kenne ich: Mir wird schwarz vor Augen, und Ohnmachtsanfälle gehören mittlerweile zum Alltag . Schmerzen sind ebenfalls häufig – ob Kopf-, Muskel- oder Gelenkschmerzen, neue Nervenschmerzen oder ein Brennen im ganzen Körper. Mein Körper fühlt sich oft an, als hätte er dauerhaft Fieber und Gliederschmerzen. Schlaf bringt keine Erholung mehr – trotz bleierner Müdigkeit wache ich nicht erfrischt auf. Und all das jeden Tag, ohne absehbares Ende.

Diese Symptome sind unsichtbar, aber sie haben mich zu einem Schatten meiner selbst gemacht. Früher war ich voller Tatendrang, heute verbringe ich den Großteil des Tages in einem abgedunkelten Zimmer, weil mein Körper und selbst mein Gehirn nicht mehr mitmachen . Dieser Verlust des alten Lebens ist schwer in Worte zu fassen. Gesundheit, Leistungsfähigkeit, oft auch Beruf und finanzielle Sicherheit – all das ist weggebrochen. „Céline hat alles verloren“, brachte es der Vater einer jungen Long-Covid-Patientin auf den Punkt. Viele von uns standen vorher mitten im Leben – als Ärztinnen, IT-Fachleute, Studierende, Eltern – und finden sich nun isoliert zu Hause wieder.

Forschung am Limit: körperliche Ursachen klar belegt

Angesichts dieser schweren Symptome stellt sich die Frage: Was steckt dahinter? In den ersten Monaten der Pandemie tappten Ärzte und Forscher im Dunkeln. Doch inzwischen, bis März 2025, wurden zahlreiche biologische Ursachenidentifiziert – Long Covid ist alles andere als psychosomatisch. Die Wissenschaft arbeitet fieberhaft daran, das Puzzle zu lösen. Dabei zeigt sich: Long Covid ist ein komplexes Syndrom mit mehreren Faktoren. Die führenden Hypothesen lesen sich wie eine unheimliche Liste an körperlichen Prozessen, die schiefgehen:

• Anhaltende Entzündungen und Mikrogerinnsel: Bei vielen Long-Covid-Patienten fanden Forscher ungewöhnliche Mikroklumpen im Blut – winzige Gerinnsel, die bei Gesunden kaum auftreten . Diese Mikrogerinnsel können die Durchblutung von Organen beeinträchtigen und so zu Symptomen wie extremer Müdigkeit, Brustschmerzen oder kognitiven Störungen beitragen. Wenn Gehirn und Gewebe nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden, fühlt man sich permanent erschöpft und „benebelt“. Dieses Phänomen wird intensiv erforscht, da es eine greifbare physische Erklärung für Kernsymptome liefert.

• Autoimmunreaktionen: Eine weitere Ursache könnten fehlgeleitete Abwehrreaktionen sein. Nach der Infektion richtet sich das Immunsystem bei manchen gegen den eigenen Körper. Eine aktuelle Studie stützt diese Autoimmun-Hypothese eindrucksvoll: Forschende spritzten Antikörper von Long-Covid-Patienten in gesunde Mäuse – und die Tiere entwickelten Long-Covid-ähnliche Symptome wie verstärkte Schmerzempfindung und Schwindel. Erstmals konnte so ein kausaler Zusammenhang zwischen den Autoantikörpern der Patienten und ihren Symptomen gezeigt werden. Das legt nahe, dass vom eigenen Körper gebildete Antikörper an den anhaltenden Beschwerden beteiligt sind. In der Praxis wurden bei Long Covid-Betroffenen tatsächlich verschiedene Autoantikörper im Blut gefunden. Das Immunsystem ist also fehlgesteuert und greift Strukturen an, die es eigentlich schützen sollte.

• Viruspersistenz: Ebenfalls diskutiert wird die Möglichkeit, dass das Coronavirus selbst im Körper verbleibt und versteckt weiter sein Unwesen treibt. Virus-Reservoire – etwa in Darm, Nerven oder Gewebe – könnten eine Art schwelende Infektion unterhalten, die das Immunsystem ständig reizt . Um diese These zu prüfen, laufen Studien: So testet z.B. eine Yale-Studie, ob eine antivirale Behandlung mit Paxlovid Long-Covid-Symptome lindern kann . Die Idee dahinter: Wenn noch Virusreste die Krankheit antreiben, müsste antivirales Medikament helfen. Erste Hinweise auf Virusreste im Körper von Long-Covid-Patienten wurden bereits entdeckt .

• Gestörte Hirnfunktionen: Besonders rätselhaft waren lange die neurologischen Symptome wie Brain Fog. Im Februar 2024 präsentierte ein irisches Forscherteam einen Durchbruch: Bei Long Covid ist offenbar die Blut-Hirn-Schranke gestört . Normalerweise schützt diese Barriere das Gehirn vor Schadstoffen. Bei Long-Covid-Patienten fand man jedoch undichte Gefäße im Gehirn und ein überaktives Immunsystem im Zentralnervensystem, was zu Entzündungen und dem berüchtigten Gehirnnebel führt . Ein Markerprotein (S100-Beta) für eine geschädigte Blut-Hirn-Schranke war bei Betroffenen deutlich erhöht . Diese Entdeckung liefert greifbaren Beweis, dass Long Covid handfeste körperliche Ursachen hat – die kognitiven Probleme sind nicht „eingebildet“, sondern Folge messbarer neuronaler Veränderungen .

All diese Mechanismen – Gerinnsel, Autoimmunprozesse, Virusreste, neurologische Entzündungen – müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Wahrscheinlich greifen sogar mehrere Faktoren ineinander, je nach Patient in unterschiedlicher Ausprägung . Long Covid überschneidet sich in vielen Aspekten mit anderen postviralen Syndromenwie ME/CFS oder POTS, und diese Gemeinsamkeiten helfen der Forschung, auf vorhandenes Wissen aufzubauen . So ist bekannt, dass ME/CFS oft nach Virusinfektionen auftritt und ein ähnliches Muster von Fatigue, PEM, kognitiven Störungen und Dysautonomie aufweist . Tatsächlich sind durch Long Covid weltweit zahllose Menschen an ME/CFS erkrankt oder haben ähnliche Symptome entwickelt . Die Zahl der Betroffenen steigt, während die medizinische Versorgung und soziale Unterstützung noch immer unzureichend sind – ein alarmierender Trend.

Trotz großer Fortschritte gibt es noch keine einfachen Antworten. Einen eindeutigen Labortest gibt es bislang nicht, und heilende Therapien fehlen . Diagnose erfolgt meist als Ausschlussdiagnose anhand der Symptomgeschichte . Unternehmen wie Roche arbeiten an biomarkerbasierten Tests, doch bis diese verfügbar sind, fühlen sich viele Patienten wie in einem Vakuum . Was jedoch wichtig ist: Die wissenschaftlichen Belege für körperliche Ursachen sind erdrückend. Long Covid ist real und zerstört Leben – das anzuerkennen, ist der erste Schritt . Leider wurden ME/CFS und ähnliche chronische Krankheiten jahrzehntelang als „psychisch“ abgetan mangels klarer Biomarker, und dieses Stigma hat sich zu Beginn auch auf Long Covid übertragen . Doch die harte wissenschaftliche Evidenz – von Hirnstudien bis Autoantikörper-Befunden – widerlegt die Psychosomatik-These klar .

Kein Psychoproblem: Das Vorurteil der Psychosomatik und seine Folgen

Obwohl inzwischen klar ist, dass Long Covid und ME/CFS keine rein psychischen Probleme sind, hatten Betroffene lange mit Vorurteilen zu kämpfen. Was man nicht sieht, wird oft nicht geglaubt. Viele von uns mussten von Arzt zu Arzt pilgern, bis ihre Beschwerden ernst genommen wurden . In den ersten Pandemiejahren erkannten etliche Mediziner die Zeichen von Long Covid nicht – es fehlte an Bewusstsein . Hinzu kommt: In Standard-Labortests und bildgebenden Verfahren zeigt sich oft nichts Auffälliges, obwohl der Patient weit entfernt von gesund ist . Dieses Dilemma – subjektiv schwere Symptome, aber objektiv scheinbar normale Befunde – führte dazu, dass Beschwerden vorschnell als „psychisch“ oder stressbedingt abgetan wurden . Was die Medizin nicht messen kann, wurde nicht selten als Somatisierung (körperlicher Ausdruck seelischer Probleme) interpretiert .

Long Covid reiht sich hier in eine ganze Gruppe von Erkrankungen ein, die lange als „unerklärlich“ galten – ähnlich wie früher Fibromyalgie, das Reizdarmsyndrom oder eben ME/CFS . Ohne eindeutigen Test wird die Diagnose oft erst gestellt, wenn alles andere ausgeschlossen ist. Das schafft Raum für Zweifel und Fehlurteile. Viele Patienten erleben regelrechtes „Medical Gaslighting“: Ihre Schilderungen werden heruntergespielt, als unglaubwürdig hingestellt oder pauschal auf die Psyche geschoben . Besonders Frauen erfahren das häufig, da Beschwerden von Frauen in der Medizingeschichte leider öfter als übertrieben oder hysterisch abgestempelt wurden . Long Covid bildet da keine Ausnahme, obwohl wissenschaftlich klar belegt ist, dass physiologische Ursachen zugrunde liegen .

Die Folgen dieser Fehleinschätzungen sind fatal. Zum einen führt es zu Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen. Ein Beispiel aus der Schweiz: Eine Long-Covid-Patientin wurde, weil man nichts Organisches fand, zum Psychiater geschickt und mit „Burn-out“ fehldiagnostiziert . In einer Psychosomatik-Klinik bekam sie dann Aktivierungstherapie – körperliche Übungen, um sie „aus dem Stress“ zu holen . Das Ergebnis: Ihr Zustand verschlechterte sich drastisch, weil ihr Körper die Überanstrengung nicht verkraftete . Am Ende diagnostizierte man ihr eine Anpassungsstörung, also ein psychisches Problem – tatsächlich litt sie aber an schwerem Long Covid in Form von ME/CFS, einer organischen Erkrankung, bei der Überanstrengung kontraindiziert ist . Solche Fehlbehandlungen verzögern nicht nur die richtige Diagnose, sie können den Krankheitsverlauf sogar verschlimmern . Leider sind solche Erfahrungen kein Einzelfall: In Umfragen geben rund ein Drittel der Long Hauler an, dass Ärzte ihre Beschwerden anfangs abgetan oder falsch gedeutet haben . Zu der eigentlichen Krankheit kommt dann das Gefühl, vom medizinischen System nicht ernst genommen zu werden, als zusätzliche Bürde hinzu .

Zudem führt das Psychosomatik-Vorurteil zu einer starken Stigmatisierung. Wer als „psycho“ abgestempelt wird, dem schlägt oft Unverständnis oder sogar Misstrauen entgegen. Einige von uns wurden offen gefragt, ob das alles nicht vielleicht doch eingebildet sei oder ob wir einfach dem Druck nicht standgehalten hätten. Solche Unterstellungen sind extrem verletzend – keiner von uns hätte sich dieses Leben ausgesucht. Depressionen und Angstzustände treten bei Long-Covid- und ME/CFS-Patienten zwar häufig auf, aber als Folge, nicht als Ursache der Erkrankung . Das permanente Leiden, der Verlust des gewohnten Lebens und die Unsicherheit über die Zukunft – all das schlägt auf die Psyche. Doch wichtig ist: Die psychischen Symptome sind fast immer Wirkung, nicht Auslöser der Krankheit . Ich bin nicht krank, weil ich depressiv bin – ich bin depressiv, weil ich so krank bin. Diese Unterscheidung mussten erst viele lernen, auch Ärzte. Zum Glück setzt sich diese Erkenntnis allmählich durch: Die Frage „Ist es psychosomatisch?“ sollte so gar nicht mehr gestellt werden, denn sie verkennt die Realität der Krankheit und die Not der Betroffenen. Long Covid und ME/CFS sind ernstzunehmende, körperliche Erkrankungen – statt die Symptome zu hinterfragen, sollte man Behandlung und Unterstützung voranstellen.

Soziale Isolation: Missverstanden und alleingelassen

Hinter den medizinischen Fakten steht ein menschliches Drama: Wir, die Betroffenen, fühlen uns oft allein gelassen.Long Covid und ME/CFS sind nicht nur körperlich eine große Last, sondern auch eine seelische Zerreißprobe – für uns und unser Umfeld . Während am Anfang Freunde und Familie vielleicht noch Mitgefühl zeigen („Du wirst schon wieder auf die Beine kommen“), schlägt dieses nach Monaten der Stagnation nicht selten in Ungeduld oder Unverständnis um . Sätze wie „Reiß dich doch zusammen“ oder „Das kann doch nicht nur von Covid kommen“ haben viele von uns gehört . Solche Reaktionen tun weh, zumal wir uns unsere Lage selbst nicht erklären können und uns am liebsten bei jedem Einzelnen dafür rechtfertigen würden, dass wir weder faul noch verrückt sind .

Die soziale Isolation ist für Long-Covid- und ME/CFS-Kranke beinahe so schlimm wie die Krankheit selbst. Freunde melden sich immer seltener – man kann ja sowieso nichts unternehmen. Einige enge Angehörige können die dauerhafte Veränderung nicht verkraften. So berichten Betroffene, dass Partner sich getrennt haben, weil sie das neue Leben „im Schneckentempo“ nicht mehr mittragen konnten . Ich selbst habe erlebt, wie Kontakte abbrachen. Aus Einladungen wurden Absagen, aus Verständnis wurde Schweigen. Viele von uns fühlen sich missverstanden, ja unsichtbarNeun von zehn Long-Covid-Betroffenen in einer Schweizer IV-Analyse waren zunächst voll arbeitsunfähig geschrieben – wir wirken also nicht krank in dem Sinne, wie man sich das vorstellt, aber wir sind es in einem Maße, das unser altes Leben auslöscht. Wer uns anschaut, sieht meist keinen Gipsverband, keine Narbe, nichts Greifbares. Die Krankheit spielt sich im Verborgenen ab – in unseren Zellen, unserem Blut, unserem Gehirn. Doch die Auswirkungen sind äußerst real: Wir verlieren unser „altes Ich“ und das Leben, das wir einmal hatten.

Die psychische Belastung durch diese Isolation ist enorm. Gefühle von Verzweiflung, Angst und Trauer sind an der Tagesordnung . Verzweiflung darüber, keinen Ausweg zu sehen und von der Medizin im Stich gelassen zu sein . Angst vor einer ungewissen Zukunft – Werde ich jemals wieder gesund? – und davor, gesellschaftlich abzustürzen. Trauer um das verlorene Leben, die Karriere, die Hobbys, die sozialen Rollen, die man nicht mehr ausfüllen kann . Nicht wenige entwickeln in dieser Lage eine Depression, manche haben sogar Suizidgedanken . Im August 2023 machte ein tragischer Fall Schlagzeilen: Die 56-jährige Daniela C. aus Basel, die wegen Long Covid an schwerstem ME/CFS litt, wählte den assistierten Freitod. Sie beschrieb ihr Leiden als „Krankheit der tausend Tode“ – nahezu den ganzen Tag in einem abgedunkelten Zimmer, unfähig zu lesen, zu sprechen oder Licht und Geräusche zu ertragen . Öffentlich hatte sie bis zuletzt für mehr Anerkennung dieser Krankheit gekämpft, doch schließlich sah sie keinen anderen Ausweg mehr und ging mit Hilfe der Sterbehilfeorganisation EXIT. Dieser extreme Fall ist ein Tabu, über das kaum gesprochen wird. Aber er führt uns vor Augen, wohin Hoffnungslosigkeit führen kann, wenn ein Mensch sein Dasein als so unerträglich empfindet, dass er nicht mehr leben will. Long Covid kann an diesen Punkt führen – und umso wichtiger ist es, dass wir als Gesellschaft rechtzeitig Hilfsangebote machen und Hoffnungsschimmer aufrechterhalten, bevor jemand in solche Abgründe fällt .

Kampf um Anerkennung: Hürden bei Ämtern und Versicherungen

Neben der sozialen Isolation kämpfen Long-Covid- und ME/CFS-Patienten auch an einer anderen Front: gegen bürokratische Hürden und um Anerkennung durch Institutionen. In der Schweiz zum Beispiel ringen viele Erkrankte mit der Invalidenversicherung (IV) und den Krankenkassen um Unterstützung . Unser Sozialsystem war auf eine derart neue Langzeiterkrankung kaum vorbereitet . Zwar erkennt selbst das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) inzwischen an, Long Covid sei ein „neues, ernstzunehmendes Krankheitsbild mit häufig drastischen Auswirkungen für die Betroffenen“ . Doch im Alltag der Verfahren spüren wir davon wenig.

Ein Blick auf die Zahlen: Laut einer Studie im Auftrag des BSV machten Long-Covid-Fälle rund 2% aller neuen IV-Anmeldungen 2021–2023 aus . Etwa 2’900 Patienten meldeten sich in diesem Zeitraum bei der IV, neun von zehn waren zunächst voll arbeitsunfähig geschrieben . Das zeigt, wie schwer viele betroffen sind. Trotzdem zieht sich die Entscheidungsfindung oft extrem in die Länge . Ein Beispiel ist die 23-jährige Céline: Über zwei Jahre nach Krankheitsbeginn war ihre IV-Rentenprüfung immer noch nicht abgeschlossen . Solange erhalten Betroffene allenfalls Krankentaggelder (falls vorhanden) oder Arbeitslosenhilfe, doch diese Leistungen laufen irgendwann aus . Célines Krankentaggeld endete nach zwei Jahren, und von der IV bekam sie zunächst nur eine Hilflosenentschädigung (weil sie zuhause gepflegt werden muss) . Viele geraten in dieser Warteschleife in finanzielle Not, leben von Ersparnissen oder sind auf Familie angewiesen, während unklar ist, ob und wann eine Rente kommt .

Selbst wenn schließlich eine IV-Rente zugesprochen wird, ist die Lage nicht rosig. Ende 2023 erhielten etwa 12% der Long-Covid-Betroffenen, die sich 2021/22 bei der IV angemeldet hatten, eine Rente . Zum Vergleich: In einer Kontrollgruppe mit anderen Krankheiten waren es 9% . Die Quote ist also etwas höher, doch bedeutet auch: Die Mehrheit bekam keine Rente – teils, weil sie sich glücklicherweise erholt haben, teils, weil die Verfahren noch laufen oder abgelehnt wurden. Es gibt Fälle, in denen laut IV „kein Eingliederungspotenzial“ besteht (d.h. keine Aussicht, die Person wieder arbeitsfähig zu machen), aber trotzdem die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Rente angeblich nicht erfüllt sind . Das deutet darauf hin, dass manche Anträge abgelehnt wurden, obwohl die Personen nicht mehr arbeitsfähig sind – womöglich mit Verweis auf unklare Befundlage oder eine optimistischere Langzeitprognose seitens der IV.

Die IV verfolgt das Prinzip „Eingliederung vor Rente“ – verständlich, man will Menschen wenn möglich wieder ins Erwerbsleben integrieren . Aber bei Long Covid stößt dieses Vorgehen oft an GrenzenWie soll man jemanden umschulen oder eingliedern, der kaum eine halbe Stunde am Stück sitzen oder denken kann ? Der Gesundheitszustand schwankt von Tag zu Tag, jede Überanstrengung verschlechtert alles. Viele Long-Covid-Betroffene berichten von einem wahren Spießrutenlauf bei den IV-Abklärungen . Wir müssen immer wieder erklären, was Long Covid ist, dass unsere Beschwerden real und nicht „psychosomatisch“ sind, und warum wir momentan nicht arbeiten können. Doch objektive Befunde – ein auffälliger Laborwert, ein eindeutiges MRI – fehlen oft, was es schwerer macht, die IV von der Schwere der Erkrankung zu überzeugen . So wird mancherorts leider immer noch angezweifelt, was man nicht messenkann.

Marco hat diesen Kampf am eigenen Leib erlebt. „Das Schlimmste ist nicht einmal die Krankheit selbst, sondern das System, das mich im Stich lässt,“ schrieb er einmal verzweifelt. Sein Antrag auf IV-Unterstützung wurde zunächst abgelehnt, obwohl er jahrelang in die Sozialversicherungen eingezahlt hatte und objektiv nicht arbeitsfähig war. Er konnte sich kaum noch selbst versorgen – und doch erhielt er keine finanzielle Absicherung. Stattdessen rutschte er in die Sozialhilfe und musste mit 900 Franken im Monat auskommen. „Es fühlt sich an, als hätte ich alles verloren: meine Unabhängigkeit, meine Sicherheit, meine Hoffnung.“ Ohne die Unterstützung seiner Familie hätte er nicht gewusst, wie er über die Runden kommen sollte.

Doch als wäre all das nicht genug, begann ein weiterer unerbittlicher Kampf: der Kampf gegen die IV-Bürokratie. Zunächst wurden fünf medizinische Gutachten veranlasst, die sein Leiden nicht ernst genug nahmen. Sein Anwalt legte Beschwerde ein. Doch anstatt eine gerechte Entscheidung zu treffen, verlangte die IV daraufhin acht weitere Gutachten! Zu diesem Zeitpunkt war Marco bereits schwer krank und geschwächt – aber um seine Ansprüche prüfen zu lassen, musste er sich diesen endlosen Untersuchungen unterziehen. Nach den ersten beiden zusätzlichen Gutachten brach sein Körper endgültig zusammen. Er wurde wieder zum totalen Pflegefall, unfähig, sich selbst zu versorgen. Die Ärzte bestätigten schriftlich, dass weitere Prüfungen für ihn gesundheitlich unzumutbar und gefährlich seien. Doch die IV bestand trotzdem darauf, dass alle acht Gutachten durchgeführt werden.

„An diesem Punkt fragt man sich verzweifelt: Wie soll man sich wehren, wenn das System einen zerbricht?“

Skandalöse Gutachten: Wenn Kranke als Betrüger abgestempelt werden

Mein Erlebnis ist leider kein Einzelfall. In den letzten Jahren kam in der Schweiz ein Skandal um falsche IV-Gutachtenans Licht, der viele Betroffene erschüttert hat. Im Zentrum steht die private Gutachterfirma PMEDA AG, die von IV-Stellen beauftragt wurde, medizinische Expertisen zu erstellen. Diese Gutachten waren oft matchentscheidend, ob jemand eine IV-Rente erhält oder nicht . Für die Gutachter war es ein Millionengeschäft – PMEDA erhielt in zehn Jahren über 26 Millionen Franken für Aufträge . Doch nun zeigt sich: Zahlreiche dieser Expertisen waren mangelhaft oder sogar manipuliert.

Zwei Ärzte der PMEDA – darunter der Gründer und medizinische Leiter Dr. Henning Mast – mussten sich wegen Betrugsvorwürfen vor Gericht verantworten . Die Zürcher Staatsanwaltschaft erhob Anklage und fordert mehrjährige Freiheitsstrafen wegen angeblich manipulierter IV-Gutachten . Heimliche Tonbandaufnahmen sollen belegen, wie schlampig manche Untersuchungen abliefen . Jahrelang funktionierte die Aufsicht nicht, trotz wiederholter Kritik an diesen Gutachten . Erst jetzt, 2025, greift die Justiz ein. Dieser Fall wirft viele Fragen auf – unter anderem, warum das BSV so lange an dieser Gutachterstelle festhielt.

Für uns Betroffene bedeutet dieser Skandal eine bittere Bestätigung dessen, was wir ohnehin spürten: Wir wurden nicht fair behandelt. Unfaire Gutachten haben dafür gesorgt, dass Kranke gesund geschrieben wurden und keine Unterstützung bekamen . Patientenberichte und Atteste von behandelnden Ärzten, die unsere schwere Krankheitslast dokumentiert hatten, wurden von diesen Gutachtern einfach in den Wind geschlagen . In manchen Gutachten wurde uns de facto unsere Erkrankung abgesprochen, mit der Begründung, Long Covid sei „nicht beweisbar“. Dass ein Gutachter sich nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung hält und dann aus Unwissen behauptet, unsere Krankheit existiere nicht, ist fahrlässig. Genau das ist passiert – sogar öffentlich: Dr. Mast, der PMEDA-Chef, publizierte in der Weltwoche einen Artikel, in dem er Long Covid als modische „Zeitgeist-Diagnose“ hinstellte und ohne aktuelle Studien lediglich seine persönlichen Ansichten darlegte . Damit diskreditierte er aus Sicht vieler den Beweiswert und die Unabhängigkeit seiner Gutachten .

Die Folgen für uns Patienten sind verheerend. Durch solche falschen Gutachten wurden wir letztlich als Lügner und Betrüger abgestempelt, obwohl wir in Wahrheit an schweren Krankheiten leiden. Wer in einem Gutachten gesundgeschrieben wird, obwohl er bettlägerig ist, steht plötzlich als Simulant da, als jemand, der das Sozialsystem betrügen will. Dieses Stigma ist ungeheuer belastend. Einige von uns haben Jahre ihres Lebens und ihre finanzielle Existenz verloren, weil ein unfaires Gutachten ihnen die Invalidenrente verwehrte und sie in die Sozialhilfe trieb . Es ist inakzeptabel, dass solche Praktiken so lange durchgehen konnten. Zwar betont das BSV nun, es gelte die Unschuldsvermutung für PMEDA (und tatsächlich laufen noch Verfahren) . Doch aus Betroffenensicht steht fest: Hier wurde Vertrauen verspielt. Wir fordern, dass Firmen wie PMEDA keine Gutachten mehr über Long Covid- und ME/CFS-Patienten verfassen dürfen und alte Gutachten unabhängig überprüft werden . Es darf nicht sein, dass tatsächlich kranke Menschen „gesundgeschrieben“ werden und in eine belegte Invalidität getrieben werden, wie es in einigen dieser Fälle geschah .

Dieser Skandal hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Er zeigt exemplarisch, wie Gefährlich Vorurteile und finanzielle Interessen im Gesundheitssystem sein können. Denn letztlich waren es wieder wir Patienten, die den Preis bezahlt haben – mit unserer Gesundheit und unserer Würde.

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung: Die emotionale Achterbahn

All diese Herausforderungen – die Krankheit selbst, das Unverständnis der Umwelt, der Kampf mit den Behörden – bringen einen an die Grenzen der Belastbarkeit. Es ist ein ständiges Auf und Ab der Gefühle, eine emotionale Achterbahn. An manchen Tagen überwiegt die Verzweiflung: Kein Ausweg in Sicht, die Medizin scheint einen vergessen zu haben, die Behörden blocken, und das Leben zieht draußen ohne einen vorbei . Die Frage „Warum ausgerechnet ich?“ quält einen. Manchmal schleicht sich auch Scham ein: Man fühlt sich wertlos, als Last für die Angehörigen, als Versager in einer auf Leistung getrimmten Gesellschaft. Wenn man dann noch unterschwellig als simulant hingestellt wird, ist das ein Stich ins Herz.

Doch dann gibt es auch die anderen Momente – kleine Lichtblicke, die zeigen, dass noch nicht alles verloren ist. Für Marco war ein solcher Moment, als er einen elektrischen Rollstuhl benötigte, doch die IV sich weigerte, dafür aufzukommen. Die bürokratische Mühle mahlte weiter, Anträge wurden verschleppt, Einsprüche abgewiesen – und während das System versagte, saß Marco in seiner Wohnung fest, ohne Möglichkeit, sich frei zu bewegen.

Doch was dem Staat nicht dringlich genug erschien, erkannten einfache Menschen sofort: Marco startete ein Crowdfunding, und innerhalb von 48 Stunden kamen 15’000 Franken zusammen – genug, um den Rollstuhl zu finanzieren. Es war nicht eine große Institution, kein Gesundheitsamt, keine Versicherung, die half – sondern Menschen wie du und ich, die die Notwendigkeit von Unterstützung sofort begriffen, während Behörden zögerten und verzögerten.

Diese überwältigende Solidarität hat Marco gezeigt, dass es doch noch Menschen gibt, die sehen, was mit Long-Covid-Betroffenen passiert. Es gibt Mitgefühl, auch wenn das System uns im Stich lässt. Fremde Menschen, die seine Geschichte lasen, spendeten Geld, damit er wieder ein Stück Mobilität und Würde erlangen konnte.

Doch genau darin liegt die Tragik: Dass Schicksale wie Marcos nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Dass Betroffene in endlose Kämpfe mit der IV und Krankenkassen gezwungen werden, während Außenstehende schneller verstehen, was wirklich gebraucht wird. Dass die, die ohnehin alles verloren haben, auch noch um ihr Recht betteln müssen.

Das Crowdfunding gab Marco den dringend benötigten Rollstuhl – aber es hätte ihn gar nicht gebraucht, wenn das System richtig funktionieren würde.

Überhaupt entsteht langsam eine Gegenbewegung der Hoffnung und des ZusammenhaltsPatientenorganisationen und Selbsthilfegruppen haben sich überall gebildet. In der Schweiz etwa setzt sich die Organisation Long Covid Schweiz für uns ein – vernetzt Betroffene, stellt Informationen bereit und macht politisch Druck . Auch Online-Communities wie unsere Plattform ichbinkeineinzelfall.ch sind Gold wert. Hier erfährt man: Du bist nicht allein. Der Austausch mit anderen, die das Gleiche durchmachen, spendet Trost und liefert praktische Tipps . In Foren motivieren wir uns gegenseitig an schlechten Tagen und feiern kleine Fortschritte an guten Tagen . Es mag banal klingen, aber zu wissen, dass jemand da draußen genau versteht, wie es einem geht, kann buchstäblich lebensrettend sein. „Du bist kein Einzelfall“ – dieser Satz wird zum Mantra, das uns durchhalten lässt .

Auch Angehörige finden in solchen Communities Rat: Wie gehe ich mit meinem chronisch erschöpften Partner um? Was sage ich meiner Freundin, die seit Monaten krank ist? Durch Aufklärung wächst im Umfeld allmählich das Verständnis . Long Covid und ME/CFS stellen Freundschaften, Familien und Partnerschaften auf die Probe, doch Empathie, Geduld und der Wille zur Unterstützung machen einen gewaltigen Unterschied . Ich habe gelernt, Hilfe anzunehmen und offen zu kommunizieren, was ich brauche. Und ich habe erlebt, dass echte Freunde bleiben – mögen auch Jahre vergehen – und dass neue Freundschaften entstehen können, oft zu Mitbetroffenen, die man vorher nie kannte. In der Gemeinschaft liegt eine heilsame Kraft, die selbst die Dunkelheit der Isolation durchbrechen kann .

Gleichzeitig treibt uns Betroffene die Suche nach Lösungen an. Wer gesundheitlich dazu in der Lage ist, liest Studien, probiert (in Absprache mit Ärzten) neue Therapien aus, kontaktiert Spezialisten im In- und Ausland. Dieses Engagement – oft aus der Verzweiflung geboren – hat mitunter zu innovativen Impulsen geführt . Patientengruppen haben Daten gesammelt (Crowdsourcing) und Forschungsprojekte mitinitiiert . Einige Ärzte und Wissenschaftler, die selbst Long Covid haben, bringen sich mit besonderem Eifer ein und treiben die Forschung voran . Immer wieder hört man auch von Genesenen, die Mut machen: Menschen, die nach ein, zwei oder mehr Jahren allmählich ins Leben zurückgefunden haben. Ihre Geschichten geben uns Kraft, weiterzukämpfen . Insgesamt zeigt sich eine erstaunliche Resilienz: Trotz aller Rückschläge halten viele Betroffene an kleinen Hoffnungen fest – sei es eine neue Studie, die einen Therapieansatz liefert, oder einfach ein Tag, an dem man die Sonne auf der Haut spürt und merkt, dass man noch lebt. Diese Mischung aus Hoffnung und Frustration prägt den Alltag mit Long Covid.

Nicht aufgeben – und nicht vergessen werden

Long Covid und ME/CFS sind nicht nur medizinische Herausforderungen, sondern auch ein Spiegel für unsere Gesellschaft. Sie zeigen, wie wir mit chronisch Kranken umgehen, wie viel Empathie wir aufbringen und wie flexibel unsere Institutionen in einer Krise reagieren. Wie viel ist uns ein Menschenleben wert? Natürlich würde niemand offen behaupten, ein Long-Covid-Patient sei weniger wert als ein Gesunder. Doch in der Praxis fühlen viele von uns sich genau so behandelt . Wenn Krankenkassen sich weigern, möglicherweise hilfreiche Therapien zu bezahlen – sind ihnen dann 20’000 Franken mehr wert als das Wohlergehen eines Menschen? Wenn Forschungsprojekte mangels Geld scheitern, wie das Zürcher Apherese-Projekt, welche Prioritäten setzen wir als Gesellschaft? Wenn junge Menschen jahrelang kein normales Leben führen können und in Armut abzurutschen drohen, weil Institutionen träge entscheiden – was sagt das über den Stellenwert von Gesundheit und Menschenwürde in unserem Land aus? In der Schweiz, einem der reichsten Länder der Welt, sollte niemand das Gefühl haben müssen, sein Leben sei „zu teuer“ oder „nicht wichtig genug“. Und doch mussten viele von uns genau dieses Gefühl erleben.

Die Erfahrungen der letzten Jahre haben deutlich gemacht: Wir dürfen chronisch Kranke nicht vergessen. Jeder von uns Long-Covid- und ME/CFS-Betroffenen hatte Träume, Angehörige, einen Platz in der Gesellschaft – und könnte ihn mit der richtigen Unterstützung vielleicht wieder einnehmen . Krankheit darf kein persönliches Verschulden sein, und niemand darf durch’s Raster fallen, nur weil seine Krankheit neuartig oder unsichtbar ist. Die Frage nach dem Wert eines Lebens lässt sich nicht in Zahlen beantworten, aber wir beantworten sie de facto jeden Tag durch unser Handeln . Indem wir Long-Covid-Betroffene ernst nehmen, ihre Geschichten erzählen, Forschung fördern, Versorgung verbessern und füreinander einstehen, zeigen wir, was uns ein Menschenleben wirklich wert ist.

Für uns Patienten heißt es derweil: Nicht aufgeben – so schwer es fällt. Long Covid ist ein Marathon, kein Sprint . Wir brauchen einen langen Atem, medizinisch, bürokratisch und emotional . Die Wissenschaft arbeitet mit Hochdruck daran, die Puzzleteile zusammenzufügen . Im Gesundheitssystem und bei den Versicherungen müssen flexible Lösungen gefunden werden, um mit diesen neuartigen Herausforderungen umzugehen. Vor allem aber braucht es Mitgefühl und Solidarität. Jede helfende Hand, jedes offene Ohr, jede politische Stimme zählt. Gemeinsam müssen wir dafür sorgen, dass aus Verzweiflung wieder Hoffnung wächst .

Ich schreibe diesen Bericht sowohl für Betroffene als auch für Angehörige und Außenstehende. Den Mit-Betroffenen möchte ich zurufen: Du bist kein Einzelfall. Wir sind viele, und wir sind füreinander da . Schäme dich nicht deiner Tränen – was dir widerfährt, ist real und du hast jedes Recht, gehört zu werden. Den Angehörigen und Freunden möchte ich danken, die bleiben und stützen. Und allen anderen möchte ich sagen: Schaut nicht weg. Hört uns zu. Glaubt uns. Einfühlungsvermögen und Verständnis können Welten verändern. Long Covid und ME/CFS könnten jeden treffen – und sie gehen uns alle an.

Am Ende steht die Hoffnung, dass diese Krise auch etwas Gutes hervorbringt: ein Umdenken, mehr Forschung, bessere Versorgung und eine menschlichere Bürokratie. Wenn wir die Lehren aus Long Covid ziehen, werden künftige Generationen davon profitieren . Und vielleicht, eines Tages, können wir auf diese Jahre zurückblicken und sagen: Wir haben Schlimmes durchgemacht, aber wir haben es gemeinsam durchgestanden – und niemand von uns war je wirklich allein.

Du bist nicht allein.

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