
Quelle: aerzteblatt.de
Für die hunderttausenden Menschen in der Schweiz und Millionen weltweit, die unter Long Covid leiden, gibt es einen neuen Hoffnungsschimmer am Horizont. Während bisher hauptsächlich symptomatische Behandlungen zur Verfügung standen, könnte ein Medikament, das eigentlich für eine ganz andere Erkrankung zugelassen ist, neue Perspektiven eröffnen. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz an der Berliner Charité und international anerkannte Long-Covid-Expertin, setzt große Hoffnungen in eine Therapie mit Inebilizumab, einem Medikament, das ursprünglich für die Behandlung der Neuromyelitis-Optica-Spektrum-Erkrankung (NMOSD) entwickelt wurde.
- Wenn das Immunsystem zum Gegner wird
- Inebilizumab: Vom NMOSD-Medikament zur Long-Covid-Hoffnung
- Immunadsorption: Vielversprechende Zwischenlösung
- Weitere Hoffnungsträger in der Forschungspipeline
- Die Bedeutung der richtigen Patientenauswahl
- Symptomatische Therapie: Was heute schon möglich ist
- Von der individuellen zur kollektiven Hoffnung
- Zukunftsperspektiven: Ein vorsichtig optimistischer Ausblick
- Ein persönliches Schlusswort
Wenn das Immunsystem zum Gegner wird
Die Forschung der letzten Jahre hat zunehmend Belege dafür geliefert, dass Autoantikörper bei vielen Long-Covid-Betroffenen eine zentrale Rolle spielen könnten. Diese fehlgeleiteten Antikörper richten sich gegen körpereigene Strukturen und können eine Vielzahl von Symptomen verursachen. Die Erfahrungsberichte auf der Plattform Ich bin kein Einzelfall zeigen die beeindruckende Bandbreite der Beschwerden: von lähmender Erschöpfung über kognitive Einschränkungen (“Brain Fog”) bis hin zu Kreislaufstörungen, Muskelschmerzen und vielem mehr.
“Wenn Autoantikörper die Ursache für Long Covid sind, dann geht es den Betroffenen besser, wenn wir diese gezielt behandeln können”, erklärte Scheibenbogen beim 3. Long-COVID-Kongress. Diese Erkenntnis öffnet das Tor für neue therapeutische Ansätze, die nicht nur Symptome lindern, sondern möglicherweise an die Wurzel des Problems gehen könnten.
Inebilizumab: Vom NMOSD-Medikament zur Long-Covid-Hoffnung
Seit 2022 ist Inebilizumab (Handelsname Uplizna®) als Monotherapie für Menschen mit Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung zugelassen, bei denen sich sogenannte Anti-Aquaporin-4-Antikörper im Blut nachweisen lassen. Bei dieser seltenen Autoimmunerkrankung greift das Immunsystem Sehnerven und Rückenmark an.
Was macht dieses Medikament so interessant für Long Covid? Inebilizumab ist ein Antikörper, der sich gegen das B-Zell-Oberflächenprotein CD19 richtet. B-Zellen sind die Zellen unseres Immunsystems, die für die Produktion von Antikörpern zuständig sind. Wenn bei Long Covid fehlgeleitete Autoantikörper eine Rolle spielen, dann könnte eine Therapie, die diese antikörperproduzierenden Zellen angreift, den Teufelskreis durchbrechen.
“Es ist für uns momentan das wirksamste Medikament, um B-Zellvermittelte-Autoantikörper-Erkrankungen zu behandeln”, betonte Scheibenbogen. Im Vergleich zu anderen Therapieansätzen hat Inebilizumab potentiell entscheidende Vorteile: Die Behandlung ist einfacher durchzuführen als beispielsweise eine Immunadsorption, und es besteht Hoffnung auf eine langfristige Besserung oder sogar Heilung.
Immunadsorption: Vielversprechende Zwischenlösung
Während Wissenschaftler wie Scheibenbogen die Hoffnungen auf Medikamente wie Inebilizumab setzen, gibt es bereits heute Therapieansätze, die zumindest vorübergehend Linderung verschaffen können. Bei der Immunadsorption werden schädliche Autoantikörper direkt aus dem Blut entfernt – vergleichbar mit einer Dialyse, aber spezifisch für Antikörper.
In einer Berliner Studie führte die Immunadsorption bei Patienten mit Long Covid und Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS), die erhöhte β2-adrenerge Antikörper aufwiesen, zu einer deutlichen Verbesserung der Alltagsfunktionen und einer Reduktion von Schmerzen. Der Haken: Nach etwa sechs Monaten ließ die Wirkung wieder nach. Der Grund liegt auf der Hand – während die Autoantikörper entfernt werden, bleiben die Zellen, die sie produzieren, unberührt und stellen weiterhin neue her.
Trotzdem ist die Immunadsorption ein wichtiges therapeutisches Werkzeug, und ihre Wirksamkeit ist ein weiterer Beleg für die Autoantikörper-Hypothese. Eine placebokontrollierte Studie zur Immunadsorption wird aktuell in Hannover durchgeführt (EXTINCT-Studie), deren Ergebnisse für Februar erwartet werden.
Auf der Plattform Ich bin kein Einzelfall berichten Betroffene von ihren Erfahrungen mit verschiedenen Therapieansätzen, darunter auch der Immunadsorption. Diese persönlichen Geschichten geben anderen Betroffenen wertvolle Einblicke und Orientierung in einer oft verwirrenden Behandlungslandschaft.
Weitere Hoffnungsträger in der Forschungspipeline
Inebilizumab und die Immunadsorption sind nicht die einzigen vielversprechenden Therapieansätze. Scheibenbogen berichtete von weiteren Forschungsprojekten:
Vericiguat: Vom Herzmedikament zur Long-Covid-Therapie
In der VERI-LONG-Studie wird derzeit an der Charité Vericiguat, ein Medikament für Herzinsuffizienz, in einer placebokontrollierten Phase-2a-Studie bei Menschen mit Post-COVID-Syndrom oder ME/CFS getestet. “Es ist ein Medikament, in das wir große Hoffnung setzen”, so Scheibenbogen. Die Rekrutierung der Studienteilnehmenden sei bereits zu zwei Dritteln abgeschlossen, und es zeige sich bei einigen eine Verbesserung von Brain Fog und der körperlichen Belastbarkeit.
Hyperbare Sauerstofftherapie: Hilfe auch für Schwerbetroffene
Besonders für schwer betroffene Patienten mit Long Covid oder ME/CFS könnte die hyperbare Sauerstofftherapie eine Option sein. Bei dieser Behandlung atmen die Patienten reinen Sauerstoff unter erhöhtem Druck in einer speziellen Kammer ein. Nach Scheibenbogen gibt es bislang Erfahrungen mit 25 Patienten, von denen drei Viertel von einer Verbesserung der Alltagsfunktionen berichten. Tests für die Handkraft sowie Sitz- und Stehtests und viele weitere Symptome zeigten Besserung.
BC007: Nicht aufgeben trotz Rückschlag
Ein weiteres Medikament, das in der Long-Covid-Forschung Aufmerksamkeit erregt hat, ist BC007. Dieses sogenannte Aptamer soll Autoantikörper neutralisieren und galt lange als große Hoffnung in der Long-Covid-Behandlung. In einer randomisiert-kontrollierten Studie mit 30 Patienten an der Universität Erlangen habe die Therapie mit BC007 eine Besserung im Fatigue Severity Score gezeigt sowie Veränderungen in der Ruhehirnaktivität in der funktionellen Magnetresonanztomographie (reCOVer-Studie).
Allerdings gab es vor etwa zwei Wochen eine enttäuschende Mitteilung: Der Hersteller Berlin Cure teilte mit, dass der Wirkstoff in einer Phase-2-Studie mit 114 Long-Covid-Patienten nicht besser abgeschnitten hatte als ein Placebo.
Trotz dieses Rückschlags hat Scheibenbogen die Hoffnung auf BC007 noch nicht aufgegeben. Der Grund für die unterschiedlichen Ergebnisse könnte in der Patientenauswahl liegen. “Studien, in denen man einfach Post COVID behandelt, machen keinen Sinn”, erklärte die Expertin. “Man muss Patienten einschließen, bei denen es wahrscheinlich ist, dass Autoantikörper die Ursache sind.” So könne BC007 weiterhin eine Therapiemöglichkeit für bestimmte Untergruppen von Long-Covid-Betroffenen sein.
Die Bedeutung der richtigen Patientenauswahl
Scheibenbogen hat mit ihrer Aussage einen entscheidenden Punkt angesprochen: Long Covid ist vermutlich keine einheitliche Erkrankung, sondern eher ein Sammelbegriff für verschiedene Krankheitsmechanismen, die zu ähnlichen Symptomen führen können. Bei manchen Patienten könnten Autoantikörper die Hauptursache sein, bei anderen virale Persistenz, Mikrogerinnsel oder andere Faktoren.
Diese Heterogenität macht sowohl die Forschung als auch die Behandlung komplex. Künftige Studien und Therapieansätze müssen diese Unterschiede berücksichtigen und gezielter auf bestimmte Patientenuntergruppen ausgerichtet sein.
Für Betroffene bedeutet dies, dass eine genaue Diagnostik und Charakterisierung ihrer spezifischen Form von Long Covid entscheidend sein könnte, um die optimale Behandlung zu erhalten. Die Erfahrungsberichte auf Ich bin kein Einzelfall zeigen, wie unterschiedlich die Verläufe und Reaktionen auf verschiedene Therapien sein können.
Symptomatische Therapie: Was heute schon möglich ist
Während die Forschung an ursächlichen Therapien voranschreitet, betonte Scheibenbogen, dass bereits jetzt viele einzelne Symptome bei Long Covid behandelbar seien. Ein Beispiel ist die Behandlung von Schlafstörungen mit dem Wirkstoff Doxepin. Eine Auflistung der symptomorientierten Arzneimittel finde sich im Therapiekompass auf der Seite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).
Eine Off-Label-Liste, also eine Liste von Medikamenten, die für andere Indikationen zugelassen sind, aber bei Long Covid eingesetzt werden könnten, ist in Arbeit. Scheibenbogen hofft, dass die Erstellung dieser Liste im März abgeschlossen sein wird, wobei sie anschließend noch vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) geprüft werden muss.
Von der individuellen zur kollektiven Hoffnung
Die Fortschritte in der Long-Covid-Forschung und die Aussicht auf neue, möglicherweise ursächliche Therapien geben Hoffnung. Doch bis diese neuen Behandlungen breit verfügbar sind, bleibt die gegenseitige Unterstützung und der Erfahrungsaustausch zwischen Betroffenen ein unschätzbarer Wert.
Plattformen wie Ich bin kein Einzelfall spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie bieten nicht nur praktische Informationen und Erfahrungsberichte zu verschiedenen Therapieansätzen, sondern auch emotionale Unterstützung und das Gefühl, mit den eigenen Problemen nicht allein zu sein.
Durch verschiedene Mitgliedschaftsoptionen können Betroffene Teil dieser unterstützenden Gemeinschaft werden und gleichzeitig dazu beitragen, dass die Plattform ihre wichtige Arbeit fortsetzen kann.
Zukunftsperspektiven: Ein vorsichtig optimistischer Ausblick
Die Forschung zu Long Covid hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Von einer anfänglich oft belächelten oder psychologisierten Erkrankung hat sich Long Covid zu einem anerkannten biomedizinischen Forschungsfeld entwickelt, an dem Wissenschaftler weltweit arbeiten.
Die Erkenntnis, dass Autoantikörper bei vielen Betroffenen eine Schlüsselrolle spielen könnten, eröffnet neue therapeutische Möglichkeiten. Medikamente wie Inebilizumab, die direkt an den B-Zellen ansetzen, könnten einen Paradigmenwechsel in der Behandlung darstellen: weg von der reinen Symptomlinderung, hin zu einer ursächlichen Therapie.
Gleichzeitig hat die intensive Forschung zu Long Covid auch das Verständnis für andere postinfektiöse Syndrome wie ME/CFS vertieft. Erkrankungen, die jahrzehntelang vernachlässigt wurden, erfahren nun endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Dies könnte langfristig nicht nur Long-Covid-Betroffenen helfen, sondern auch Menschen mit ähnlichen chronischen Erkrankungen.
Für den einzelnen Betroffenen mag der Weg noch lang erscheinen, und die täglichen Herausforderungen bleiben bestehen. Doch die wissenschaftlichen Entwicklungen geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Mit jedem neuen Forschungsergebnis, jeder neuen Therapieoption und jeder erfolgreichen Behandlung wächst die Hoffnung, dass Long Covid eines Tages keine lebenslange Einschränkung mehr sein muss.
Ein persönliches Schlusswort
Als selbst von Long Covid Betroffener verfolge ich die Entwicklungen in der Forschung mit großem Interesse und zunehmender Hoffnung. Die täglichen Herausforderungen, die chronische Erschöpfung, die Belastungsintoleranz und die kognitiven Einschränkungen bleiben zwar Realität, aber das Wissen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit an Lösungen arbeiten, gibt Kraft.
Besonders ermutigend finde ich den Fokus auf Autoantikörper als mögliche Ursache. Nach Jahren des “Es ist alles nur psychisch” oder “Du musst dich nur mehr bewegen” bekommen wir endlich konkrete, biologisch fundierte Erklärungsansätze und darauf aufbauende Therapiemöglichkeiten.
Die Gemeinschaft der Betroffenen, wie sie sich auf Plattformen wie Ich bin kein Einzelfall findet, ist dabei eine unschätzbare Ressource. Hier erfahren wir nicht nur vom neuesten Stand der Forschung, sondern auch von den persönlichen Erfahrungen anderer mit verschiedenen Therapien. Wir tauschen Tipps aus, wie man den Alltag mit der Erkrankung meistern kann, und bieten uns gegenseitig emotionale Unterstützung in schwierigen Zeiten.
Long Covid hat unser Leben verändert, aber die Forschung und die Gemeinschaft der Betroffenen geben Hoffnung, dass wir nicht für immer in diesem Zustand gefangen sein müssen. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir in den kommenden Jahren Zeuge bedeutender Fortschritte in der Behandlung sein werden. Bis dahin bleiben wir stark, unterstützen uns gegenseitig und lassen unsere Stimmen hören. Denn eines ist klar: Wir sind keine Einzelfälle, wir sind viele, und gemeinsam können wir einen Unterschied machen.