
Quelle: LiveScience.com
Die Pandemie mag aus den Schlagzeilen verschwunden sein, doch ihre Spuren in unserem kollektiven Gesundheitsbild bleiben tief. Eine kürzlich im renommierten Journal of General Internal Medicine veröffentlichte Studie liefert nun besorgniserregende Erkenntnisse: Etwa 1 von 22 Menschen, die eine COVID-19-Infektion überstanden haben, entwickelt später ME/CFS – eine chronische, oft lebenslange Erkrankung, die die Lebensqualität der Betroffenen drastisch einschränken kann.
- Was genau hat die Studie herausgefunden?
- ME/CFS: Eine unterschätzte Erkrankung rückt ins Rampenlicht
- Die auffällige Verbindung zu Long COVID
- Die geschlechtsspezifische Komponente
- Was bedeutet das für uns?
- Was wir aus dieser Studie lernen können
- Ein persönlicher Erfahrungsbericht
- Der dringende Ruf nach mehr Forschung
- Was können wir tun?
- Ein Weckruf für uns alle
Was genau hat die Studie herausgefunden?
Die Forschenden untersuchten 11.785 US-amerikanische Erwachsene, die nachweislich an COVID-19 erkrankt waren, sowie eine Kontrollgruppe von 1.439 Personen ohne COVID-19-Infektion. Die meisten Teilnehmenden waren zum Zeitpunkt der Studie geimpft, und die Datenerhebung fand größtenteils während der Omikron-Welle statt.
Die Ergebnisse sind eindeutig:
- 4,5% der COVID-Genesenen entwickelten ME/CFS mindestens sechs Monate nach ihrer Infektion
- Im Vergleich dazu erkrankten nur 0,6% der Menschen ohne COVID-19-Vorgeschichte an ME/CFS
- Besonders bemerkenswert: 79,5% der Neuerkrankten waren weiblich
- 88,7% derjenigen, die nach COVID-19 an ME/CFS erkrankten, erhielten auch eine Long-COVID-Diagnose
Nach Berechnungen von Beth Pollack, Forscherin am MIT, könnten diese Zahlen bedeuten, dass allein in den USA über 7 Millionen Menschen nach einer COVID-Infektion an ME/CFS erkrankt sein könnten.
ME/CFS: Eine unterschätzte Erkrankung rückt ins Rampenlicht
ME/CFS (myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom) ist keine neue Krankheit. Schon vor der Pandemie war etwa 1 von 100 Erwachsenen in den USA betroffen. Doch trotz ihrer Verbreitung blieb die Erkrankung lange untererforscht und missverstanden.
Kennzeichnend für ME/CFS ist vor allem die Post-Exertional Malaise (PEM) – eine dramatische Verschlechterung der Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung. Hinzu kommen typischerweise:
- Nicht erholsamer Schlaf
- Kognitive Beeinträchtigungen (“Gehirnnebel”)
- Orthostatische Intoleranz (plötzliche Blutdruckabfälle beim Aufstehen)
Was ME/CFS besonders belastend macht: Bis heute gibt es keine zugelassenen Behandlungen. Die biologischen Ursachen der Erkrankung werden noch erforscht, und viele Betroffene berichten von jahrelangen Odysseen durch das Gesundheitssystem, bevor sie überhaupt eine Diagnose erhalten.
Die auffällige Verbindung zu Long COVID
Die Überschneidungen zwischen ME/CFS und Long COVID sind frappierend. Dr. Anthony Komaroff, Professor an der Harvard Medical School, der nicht an der Studie beteiligt war, erklärt dazu:
“Long COVID und ME/CFS weisen nicht nur sehr ähnliche Symptome auf, sondern auch sehr ähnliche zugrunde liegende Anomalien des Gehirns, des Immunsystems, des Energiestoffwechsels und des Herz-Kreislauf-Systems.”
Komaroff vermutet, dass beide Zustände Beispiele für ein größeres Krankheitsbild sein könnten, das nach Infektionen oder schweren nicht-infektiösen Verletzungen auftreten kann – sogenannte “Post-Acute Infection Syndromes” (Syndrome nach akuter Infektion).
Diese Erkenntnis könnte erklären, warum ME/CFS auch nach anderen Virusinfektionen wie dem Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber) oder bakteriellen Infektionen wie Coxiella burnetii (Q-Fieber) auftreten kann.
Die geschlechtsspezifische Komponente
Besonders auffällig ist der hohe Anteil an Frauen unter den Neuerkrankten. Fast 80% der Personen, die nach COVID-19 ME/CFS entwickelten, waren weiblich. Dies deckt sich mit früheren Erkenntnissen, die sowohl bei ME/CFS als auch bei Long COVID eine überproportionale Betroffenheit von Frauen zeigen.
Forscherin Beth Pollack betont die Dringlichkeit, dieses Phänomen genauer zu untersuchen: “Es wird entscheidend sein, weiter zu erforschen, warum das so ist, und die Rolle von Sexualhormonen und geschlechtsspezifischen Unterschieden bei pathologischen Immunreaktionen auf Infektionen zu untersuchen.”
Was bedeutet das für uns?
Die Studienergebnisse führen uns schmerzhaft vor Augen, dass die Pandemie nicht vorbei ist, wenn die akute Infektion überstanden ist. Für Millionen Menschen weltweit könnten die Folgen lebenslang spürbar bleiben.
Wenn wir die Zahlen auf die globale Bevölkerung hochrechnen, stehen wir vor einer stillen Gesundheitskrise enormen Ausmaßes. Millionen Menschen könnten mit einer chronischen, einschränkenden Erkrankung leben, für die es derzeit keine zugelassenen Behandlungen gibt.
Was wir aus dieser Studie lernen können
Die Forschenden nutzten eine Technik namens “Propensity Score Matching”, um ihre Schlussfolgerungen zu stärken. Dabei werden Teilnehmende mit COVID-19 mit nicht infizierten Teilnehmenden verglichen, die ähnliche demografische Merkmale und Vorerkrankungen aufweisen.
Dennoch gibt es Einschränkungen: Einige Teilnehmende könnten bereits vor ihrer COVID-19-Erkrankung an undiagnostiziertem ME/CFS gelitten haben. Zudem basierte die Studie auf Fragebögen, was bedeutet, dass sich die Teilnehmenden möglicherweise nicht genau erinnern konnten, ob ihre Symptome vor oder nach ihrer COVID-19-Erkrankung begannen.
Trotz dieser Einschränkungen deuten die Ergebnisse klar darauf hin, dass COVID-19 das Risiko für ME/CFS erhöht – ein weiterer Grund, die Pandemie und ihre Folgen weiterhin ernst zu nehmen.
Ein persönlicher Erfahrungsbericht
Wie in meinem früheren Beitrag zum Thema Cimetidin und der Geschichte von Luc Biland erwähnt, gehöre auch ich zu den Menschen, die nach einer COVID-19-Infektion mit langanhaltenden Gesundheitsproblemen zu kämpfen haben. Während Luc mit Cimetidin Erfolg hatte, brachte mir dieser Ansatz leider nicht die erhoffte Besserung.
In meinem Fall waren es Nikotinpflaster, die mir eine spürbare Linderung verschafften. Wie die neue Studie eindrucksvoll zeigt, reagieren unsere Körper unterschiedlich, und die Mechanismen hinter Long COVID und ME/CFS sind komplex und vielfältig. Was bei einem Betroffenen wirkt, bleibt bei einem anderen wirkungslos.
Diese Vielfalt der Erfahrungen unterstreicht, wie wichtig der Austausch in Gemeinschaften wie “Ich bin kein Einzelfall” ist. Jeder Erfahrungsbericht, jede geteilte Beobachtung kann anderen Betroffenen wertvolle Hinweise geben und zur Aufklärung beitragen.
Der dringende Ruf nach mehr Forschung
“Diese Studienergebnisse unterstreichen den dringenden Bedarf an Behandlungsmöglichkeiten”, betont Forscherin Pollack. “ME/CFS kann durch mehrere Auslöser neben SARS-CoV-2 verursacht werden, und es gehört trotz seiner Schwere zu den am wenigsten finanzierten Krankheiten in der Forschung.”
Diese Unterfinanzierung in der Forschung spüren wir als Betroffene jeden Tag. Während für andere Erkrankungen Milliarden in die Forschung fließen, wurden ME/CFS und verwandte Zustände jahrzehntelang vernachlässigt.
Die COVID-19-Pandemie hat nun ein Schlaglicht auf diese vernachlässigten Erkrankungen geworfen. Die schiere Zahl der Neuerkrankten macht es unmöglich, das Problem weiterhin zu ignorieren. Dies könnte – bei aller Tragik der Situation – eine historische Chance darstellen, endlich die nötigen Ressourcen für Forschung und Behandlungsentwicklung zu mobilisieren.
Was können wir tun?
Als Community von Betroffenen haben wir eine wichtige Rolle zu spielen:
- Aufklärung fördern: Je mehr Menschen über ME/CFS und Long COVID informiert sind, desto größer wird der gesellschaftliche Druck, diese Erkrankungen ernst zu nehmen.
- Erfahrungen teilen: Durch den Austausch von Erfahrungen, Therapieansätzen und Bewältigungsstrategien können wir uns gegenseitig unterstützen.
- Forschung fordern: Mit einer gemeinsamen Stimme können wir mehr Forschungsgelder und Aufmerksamkeit für ME/CFS und Long COVID einfordern.
- Solidarität leben: Für viele Betroffene ist die soziale Isolation eine der größten Herausforderungen. Indem wir füreinander da sind, schaffen wir ein Netz, das trägt.
Ein Weckruf für uns alle
Die neue Studie ist ein Weckruf. Sie zeigt, dass die gesundheitlichen Folgen der Pandemie weit über die akuten Infektionen hinausreichen und uns noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte begleiten werden.
Gleichzeitig macht sie deutlich, wie wichtig Gemeinschaften wie “Ich bin kein Einzelfall” sind. In einer Situation, in der die Medizin noch keine endgültigen Antworten hat, ist der Austausch von Erfahrungen und gegenseitige Unterstützung unschätzbar wertvoll.
Die Erkenntnis, dass etwa jeder 22. COVID-Überlebende an ME/CFS erkrankt, ist beunruhigend. Aber sie bestätigt auch, was viele von uns bereits aus eigener Erfahrung wussten: Wir sind nicht allein. Wir sind tatsächlich viele. Und gemeinsam können wir Veränderung bewirken.
In diesem Sinne: Bleiben wir verbunden, bleiben wir informiert – und geben wir niemals auf. Denn du bist nicht allein, ich bin kein Einzelfall.
Quellen: Die im Artikel diskutierte Studie wurde am 13. Januar 2025 im Journal of General Internal Medicine veröffentlicht.