
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere, komplexe Erkrankung, die oftmals im Verborgenen bleibt. Für Betroffene gleicht der Alltag einem Kampf; selbst einfache Tätigkeiten wie Zähneputzen können zur unüberwindbaren Herausforderung werden . Außenstehenden fällt es schwer zu verstehen, dass das „Aufladen der Batterien“ bei diesen Patienten nicht mehr funktioniert. Die Folge: Ein Leben im Schatten, während das Umfeld die Krankheit kaum wahrnimmt. In der Schweiz sind Schätzungen zufolge zwischen 16.000 und 24.000 Menschen an ME/CFS erkrankt – viele davon junge Erwachsene, vor allem Frauen, deren Leben von heute auf morgen zum Stillstand gekommen ist. Durch die COVID-19-Pandemie rückt ME/CFS stärker ins öffentliche Bewusstsein: Experten vermuten, dass 1–2% aller COVID-19-Erkrankten Long COVID entwickeln und später ME/CFS – mit nahezu identischen Symptomen . Doch was verbirgt sich genau hinter dieser Krankheit?
Häufige Symptome von ME/CFS
ME/CFS ist weit mehr als „nur Müdigkeit“. Es handelt sich um eine Multisystemerkrankung, die Körper und Geist gleichzeitig beeinträchtigt . Charakteristisch ist eine Kombination verschiedener Symptome:
• Chronische Erschöpfung (Fatigue): Eine überwältigende, pathologische Müdigkeit, die auch durch langen Schlaf oder Ruhepausen nicht verschwindet. Betroffene fühlen sich, als hätten sie permanent eine schwere Grippe – selbst kleinste Anstrengungen können völlig erschöpfen.
• Post-Exertional Malaise (PEM, Belastungsintoleranz): Dieses Symptom ist das Kernmerkmal von ME/CFS. Darunter versteht man eine Verschlechterung des Zustands nach selbst geringer Anstrengung – oft zeitverzögert nach 12–48 Stunden. Aktivitäten, die Gesunde problemlos wegstecken, führen bei ME/CFS-Patienten zu einem „Crash“, der Tage oder Wochen anhalten kann .
• Kognitive Störungen (Brain Fog): Viele Betroffene kämpfen mit Konzentrationsproblemen, Wortfindungsstörungen und Gedächtnislücken. Dieser „Gehirnnebel“ kann so weit gehen, dass einfache Gedankengänge oder Gespräche unglaublich anstrengend werden.
• Schlafstörungen: Trotz extremer Müdigkeit schlafen ME/CFS-Kranke oft schlecht. Nicht erholsamer Schlaf, ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus oder stundenlanges Wachliegen sind häufig. Am Morgen fühlen sie sich so erschöpft, als hätten sie gar nicht geschlafen.
• Schmerzen: Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen und Kopfschmerzen gehören für viele zum Alltag. Manche haben dauerhaft Halsschmerzen und geschwollene Lymphknoten, was auf die immunologische Komponente der Krankheit hindeutet.
• Orthostatische Intoleranz: Vielen ME/CFS-Betroffenen wird schwindelig oder übel, wenn sie aufrecht stehen. Dieses Phänomen hängt oft mit POTS zusammen (siehe unten) – der Körper kann Blutdruck und Herzschlag im Stehen nicht richtig regulieren, was zu Herzrasen und Schwäche führt.
• Sensorische Überempfindlichkeit: In fortgeschrittenen Stadien reagieren manche extrem empfindlich auf Licht, Geräusche oder Gerüche. Dunkle, ruhige Räume werden zu Zufluchtsorten, da Sinnesreize schnell überfordern.
Diese Liste ist nicht vollständig – ME/CFS kann praktisch jedes System im Körper betreffen. So berichten Patienten auch von Verdauungsproblemen, Temperaturregulationsstörungen („ständig frieren oder überhitzen“) und einer generellen Anfälligkeit für Infekte. Wichtig zu betonen ist, dass die Symptomausprägung individuell verschieden ist. Es gibt mildere Verläufe, bei denen Betroffene eingeschränkt arbeiten können, bis hin zu sehr schweren Fällen, in denen Menschen bettlägerig sind und rund um die Uhr Pflege brauchen . Gemeinsam ist allen, dass das vorherige Leistungsniveau drastisch reduziert ist und ein normales Alltagsleben oft unmöglich wird.
Zusätzliche Erkrankungen und Zusammenhänge (Long COVID, POTS, MCAS)
Viele ME/CFS-Patienten leiden nicht nur an ME/CFS allein. Häufig treten Begleiterkrankungen auf oder entwickeln sich im Zuge der Hauptkrankheit. Zu den wichtigsten Zusammenhängen gehören:
• Long COVID: Eine Infektion mit dem Coronavirus kann ein postvirales Syndrom nach sich ziehen – Long COVID. Ein erheblicher Anteil der Long-COVID-Betroffenen erfüllt die Kriterien für ME/CFS . Die Symptome beider Erkrankungen gleichen sich oft wie ein Ei dem anderen, von der Fatigue bis zur Belastungsintoleranz . Long COVID hat gewissermaßen eine neue Welle von ME/CFS-Fällen ausgelöst, was zu einem dramatischen Anstieg der Fallzahlenführen könnte . Unser Gesundheits- und Sozialsystem ist darauf bisher kaum vorbereitet .
• POTS (Posturales Tachykardie-Syndrom): POTS ist eine Form der orthostatischen Intoleranz, bei der der Puls beim Aufstehen abnormal stark ansteigt. Viele ME/CFS-Betroffene erfüllen auch die Kriterien für POTS . Schwindel, Herzrasen und Ohnmachtsgefühle beim Aufrichten vom Liegen oder Sitzen sind Hinweise darauf. POTS und ME/CFS treten so häufig gemeinsam auf, dass manche Forscher von überschneidenden Ursachen ausgehen. Die genaue Beziehung ist noch Gegenstand der Forschung, aber klar ist: Kreislaufprobleme verstärken die Belastung für ME/CFS-Patienten zusätzlich.
• Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS): Darunter versteht man eine Fehlregulation bestimmter Immunzellen (Mastzellen), die plötzlich allergieartige Reaktionen im ganzen Körper auslösen können – von Hautausschlägen und Juckreiz über Schwellungen bis zu Verdauungsstörungen und Atemproblemen. MCAS wird bei ME/CFS-Patienten überdurchschnittlich häufig beobachtet . Die genauen Zusammenhänge sind noch unklar, aber es gibt Vermutungen, dass chronische Immunaktivierung eine Rolle spielt. Für die Betroffenen bedeutet es eine weitere Herausforderung: ständige Vorsicht vor Auslösern und oft eine Reihe zusätzlicher Medikamente (z.B. Antihistaminika).
• Autoimmunprozesse: Zunehmend richten sich Forschungsblicke auf das Immunsystem. Bei einigen ME/CFS-Kranken findet man Anzeichen von Autoimmunerkrankungen – das Immunsystem greift also irrtümlich körpereigene Strukturen an. Häufig treten klassische Autoimmunleiden wie Hashimoto-Thyreoiditis (Autoimmunerkrankung der Schilddrüse)gemeinsam mit ME/CFS auf . Auch Autoantikörper gegen bestimmte Rezeptoren im Blutkreislauf wurden bei ME/CFS- und POTS-Patienten entdeckt, was die Theorie untermauert, dass ME/CFS zumindest zum Teil eine Autoimmunerkrankung sein könnte.
Darüber hinaus überschneidet sich ME/CFS häufig mit Fibromyalgie (chronische Schmerzerkrankung) und dem Ehlers-Danlos-Syndrom (Erbkrankheit des Bindegewebes) . Ob es gemeinsame genetische Hintergründe gibt oder ob die Diagnosen aufgrund ähnlicher Symptome oft gemeinsam auftreten, ist wissenschaftlich noch nicht geklärt . Klar ist aber, dass ME/CFS eine komplexe Krankheit ist, die sich selten in ein einfaches Schema pressen lässt. Viele Patienten haben einen langen Leidensweg hinter sich, bevor überhaupt erkannt wird, woran sie eigentlich leiden.
Das Problem der Fehldiagnosen und Psychologisierung
ME/CFS wird von vielen Fachleuten immer noch missverstanden – mit teils gravierenden Folgen für die Patienten. Schätzungsweise 84–90% der Betroffenen weltweit sind nicht diagnostiziert oder falsch diagnostiziert . Häufig erhalten sie anfänglich Diagnosen wie Depression, Burn-out oder somatoforme Störung. Diese Fehldiagnosen rühren daher, dass Ärzte im Studium kaum etwas über ME/CFS lernen und objektive Befunde lange fehlten. ME/CFS wurde jahrzehntelang fälschlicherweise als psychisch abgestempelt, weil die üblichen Untersuchungen (Blutbilder, bildgebende Verfahren etc.) unauffällig sein können. Ein Teil der Ärztinnen und Ärzte nimmt bis heute an, die Beschwerden seien „einbildung“ oder rein psychisch bedingt .
Diese Psychologisierung einer realen körperlichen Krankheit führt dazu, dass viele Patienten zunächst keine adäquate Hilfe bekommen. Sie irren oft jahrelang von Arzt zu Arzt – im Schnitt vergehen in der Schweiz fast sieben Jahre bis zur richtigen Diagnose, und in dieser Zeit erhalten Betroffene im Mittel 2–3 Fehldiagnosen . In einem Bericht wurde festgestellt, dass Schweizer Patienten über 11 verschiedene Ärzte konsultieren mussten, bevor ME/CFS endlich erkannt wurde . Diese Odyssee ist nicht nur zermürbend, sie kann den Gesundheitszustand sogar verschlechtern. Denn ohne richtige Diagnose erfolgen mitunter falsche Therapien, die mehr schaden als nützen – etwa steigern manche Ärzte fälschlich zur Aktivität an (“Bewegen Sie sich mehr, dann wird die Müdigkeit besser”), was aber bei ME/CFS genau das Gegenteil bewirkt .
Dabei ist längst belegt, dass ME/CFS eine organische, körperliche Erkrankung ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkennt ME/CFS seit 1969 als neurologische Krankheit an (ICD-Code G93.3) . Moderne Forschung findet zahlreiche physiologische Auffälligkeiten bei ME/CFS-Patienten: So sinkt z.B. bei einem standardisierten Kipptisch-Test die Gehirndurchblutung von ME/CFS-Patienten um etwa 26%, während sie bei Gesunden nur um rund 7% abfällt . Das erklärt die Schwindelgefühle und kognitive Probleme bei vielen Betroffenen. Auch auf Zell-Ebene wurden Veränderungen nachgewiesen – nach körperlicher Anstrengung zeigen sich Schäden an den Mitochondrien (den „Kraftwerken“ der Zellen) und Veränderungen im Muskelgewebe . Solche Befunde belegen objektiv, was Patienten seit langem berichten: Ihr Körper kann nicht mehr normal auf Belastung reagieren. Trotz dieser nachweisbaren pathobiologischen Dysfunktionen gibt es bis heute keinen einzelnen Laborwert, der ME/CFS eindeutig identifiziert. Dieser fehlende Biomarker trägt mit dazu bei, dass manche Mediziner die Krankheit noch immer nicht ernst genug nehmen – ein Teufelskreis, der dringend durchbrochen werden muss.
Ein besonders krasses Beispiel für die fortwährende Stigmatisierung: In einem Gutachten einer Schweizer Sozialversicherung bezeichnete ein Arzt ME/CFS zynisch als Erfindung „erfinderischer Mediziner“ und die Symptome als „subjektive Beschwerden mit gefährlich tönenden Namen“ . Solche Aussagen treffen die Patienten ins Mark. „Viele denken, das habe einen psychischen Ursprung und dass man einfach nicht wolle“, berichtet die Betroffene Cassandra H. stellvertretend, „man solle an die frische Luft gehen und dann sei es wieder gut.“ Diese Vorstellungen seien grundfalsch: „Wenn ich könnte, wäre ich über alle Berge. Aber ich kann nicht – ich bin wie in meinem Körper gefangen.“ . Dieses Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, ist für viele fast so schlimm wie die Krankheit selbst.
Depression als Folge, nicht als Ursache
Wichtig ist die Unterscheidung: ME/CFS ist keine Depression, auch wenn Außenstehende das auf den ersten Blick verwechseln mögen. Zwar können Symptome wie Antriebslosigkeit und Schlafstörungen bei beiden auftreten, doch ME/CFS unterscheidet sich deutlich durch PEM, die belastungsinduzierte Verschlechterung – ein Merkmal, das bei Depression fehlt. Zudem wollen ME/CFS-Kranke in der Regel aktiv sein und am Leben teilnehmen, können es aber körperlich nicht. Bei einer schweren Depression hingegen fehlt häufig der innere Antrieb; körperliche Aktivität würde die Symptome nicht unmittelbar verschlimmern, sondern kann mitunter sogar stimmungsaufhellend wirken.
Dennoch erleben viele ME/CFS-Betroffene im Verlauf ihrer Erkrankung depressive Verstimmungen oder Depressionen– als Folge der jahrelangen Belastung, nicht als Auslöser. Es ist gut nachvollziehbar, warum: Die Erkrankung raubt den Menschen praktisch alle Lebensbereiche, ohne Aussicht auf schnelle Besserung. Viele verlieren ihren Beruf, ihre finanzielle Sicherheit, soziale Kontakte und Hobbys. Sie kämpfen täglich mit Schmerzen und Erschöpfung und stoßen obendrein oft auf Unglauben oder Gleichgültigkeit ihres Umfelds. Diese Kombination kann in die Verzweiflung treiben. Schwer kranke ME/CFS-Patienten haben daher ein erhöhtes Risiko für sekundäre Depressionen – schließlich würde es wohl jedem von uns aufs Gemüt schlagen, jahrelang ans Bett gefesselt zu sein und um Anerkennung der eigenen Krankheit kämpfen zu müssen.
Hinzu kommt: Nicht ernst genommen zu werden, ständig gegen Vorurteile ankämpfen zu müssen, kann traumatisch sein. Betroffene berichten von Arztbesuchen, nach denen sie weinend nach Hause gingen, weil man ihnen unterstellte, sie seien nur gestresst oder hätten ein psychisches Problem. Diese emotionalen Verletzungen verstärken die seelische Last. Depression bei ME/CFS-Patienten ist also meist reaktiv – eine verständliche Reaktion auf eine unerträgliche Situation. Wird dagegen die Grunderkrankung erkannt und der Patient ernst genommen, verbessert sich oft auch die psychische Verfassung wieder. Antidepressiva oder Psychotherapie können zwar helfen, mit der Situation besser umzugehen, heilen aber ME/CFS nicht, da sie die körperliche Krankheit nicht beseitigen. Das zu verstehen, ist zentral: Die Depression ist nicht die Ursache der Erschöpfung, sondern die Verzweiflung über ein Leben, das einem entgleitet.
Tragischerweise denken einige Betroffene in ausweglosen Momenten sogar an Suizid. In einem Fall berichtete ein Schweizer Long-COVID/ME/CFS-Patient, er beschäftige sich mangels Perspektive mit dem Thema Sterbehilfe . Solche dramatischen Schritte zeigen, wie wichtig es ist, ME/CFS-Patienten Hoffnung zu geben – durch Anerkennung, Unterstützung und Forschung nach wirksamen Behandlungen.
Gesellschaftliche und politische Aspekte in der Schweiz
ME/CFS ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. In der Schweiz fehlt es bislang an fast allem: an Anerkennung, an Versorgungstrukturen und an Forschungsgeldern. Obwohl tausende Menschen betroffen sind, fristet die Krankheit ein Schattendasein im Gesundheitssystem. Bis vor kurzem gab es hierzulande keine einzige spezialisierte Anlaufstelle oder Ambulanz für ME/CFS – Patientinnen und Patienten waren weitgehend auf sich gestellt oder auf wenige engagierte Einzelärzte angewiesen. Auch in der Politik wurde ME/CFS lange ignoriert. Weder die Invalidenversicherung (IV) noch andere Sozialversicherungen waren vorbereitet auf eine Welle chronisch Kranker ohne sichtbare Befunde.
Besonders deutlich zeigt sich das Problem bei der Invalidenversicherung. Viele ME/CFS-Erkrankte sind so schwer krank, dass sie nicht mehr arbeitsfähig sind – in einer Schweizer Studie waren 9 von 10 Betroffenen zum Zeitpunkt der IV-Anmeldung vollständig arbeitsunfähig . Dennoch erhalten nur sehr wenige eine Rente. Ende 2023 hatten gerade einmal 12% der Long-COVID-Betroffenen mit ME/CFS, die sich bei der IV gemeldet hatten, eine IV-Rente zugesprochen bekommen . Zwar sind viele Verfahren noch hängig, aber es deutet sich an, dass die große Mehrheit leer ausgeht. Viel zu oft wird die Leistung verweigert, mit der Begründung, objektive Nachweise fehlten. Ein Experte kritisierte, man könne fast „würfeln“, wer eine Rente bekommt und wer nicht – ähnlich gelagerte Fälle werden sehr unterschiedlich entschieden . Diese Willkür hat verheerende Folgen: Schwer krank zu sein ist schlimm genug – wenn dann auch noch Armut und Existenzangst dazu kommen, wird es nahezu unerträglich .
ME/CFS-Betroffene protestieren f\u00fcr mehr Forschung und Anerkennung (Aktion der #MillionsMissing-Bewegung). Der Name der Kampagne verweist darauf, dass zehntausende Erkrankte in der Gesellschaft “fehlen”, weil sie das Haus nicht verlassen k\u00f6nnen. Solche Proteste machen auf die oft unsichtbare Not der Patienten aufmerksam.
Für viele endet der IV-Kampf tragisch: Ohne finanzielle Absicherung rutschen sie ins Sozialhilfesystem ab. In der eingangs erwähnten Schätzung leben etliche der 16.000–24.000 ME/CFS-Kranken in der Schweiz ohne IV-Rente und dadurch in prekären Verhältnissen . So erging es z.B. Cassandra H. – ihr Antrag auf IV-Rente wurde abgelehnt, obwohl sie bettlägerig ist; sie muss nun von der Sozialhilfe leben . Damit teilt sie ein Schicksal mit vielen Betroffenen. Angehörige springen ein, so gut es geht, doch das fängt die langfristigen Einbußen kaum auf. Die Krankenkassen übernehmen zwar gewisse Behandlungen, aber da es keine anerkannte Standardtherapie gibt, bleiben teure experimentelle Therapien oder Auslandsbehandlungen den meisten verwehrt.
Positiv ist: Es gibt erste Anzeichen für ein langsames Umdenken. So hat das Bundesamt für Sozialversicherungen jüngst eine Studie in Auftrag gegeben, um das Ausmaß von Long COVID und ME/CFS bei der IV zu untersuchen . Der Bericht zeichnet ein ernüchterndes Bild (u.a. die oben genannten Zahlen) und könnte den Druck erhöhen, IV-Praxis und Begutachtungsverfahren anzupassen. Einige Gerichtsentscheide fielen zugunsten von ME/CFS-Patienten aus – ein bekanntes Beispiel ist ein Mann, der sich nach zunächst abgelehntem IV-Gesuch erfolgreich wehrte und schließlich doch eine Rente erhielt . Solche Fälle sind aber noch die Ausnahme.
Noch immer klafft eine große Lücke zwischen medizinischer Realität und behördlicher Anerkennung – Long-COVID-Betroffene erleben das aktuell ebenso . Im Beitrag „Zwischen medizinischer Realität und bürokratischer Härte: Der Kampf von Long-COVID-Betroffenen um Anerkennung“ wird eindrücklich beschrieben, wie Patienten im System zerrieben werden: Mehrere Fachärzte attestieren die volle Arbeitsunfähigkeit, doch die IV verlangt weitere Gutachten und zögert die Entscheidungen hinaus . Begutachtungen, die krank machen, nennt es Marco M., einer der Betroffenen . Er selbst musste für Untersuchungen Kräfte mobilisieren, die er nicht hatte – ein kafkaesker Kampf, den kein Schwerkranker durchleben sollte.
Ein Kernproblem aus juristischer Sicht: Viele ME/CFS-Symptome lassen sich nicht im Labor “messen”. Ein IV-Gutachten stellte fest, Fatigue und Belastungsintoleranz seien “schwer objektivierbar” und daher schwierig in der Abklärung . Zudem fehlten noch “generelle diagnostische Marker für Long COVID” . Diese Einschätzung zeigt die blinden Flecken im System: Solange kein einfacher Bluttest existiert, tun sich die Versicherungen schwer. Doch das darf nicht bedeuten, dass Erkrankte durchs Raster fallen. Neue Richtlinien und mehr Schulung könnten helfen, die speziellen Bedürfnisse von ME/CFS-Patienten in Gutachten zu berücksichtigen – etwa indem man die Post-Exertional Malaise mit einbezieht. Denn oft wirken Betroffene im kurzen Untersuchungsmoment “gar nicht so krank”, während sie am Tag danach einen totalen Zusammenbruch erleiden . Ohne dieses Wissen entsteht leicht der falsche Eindruck, jemand stelle sich an. Hier ist Aufklärung entscheidend.
Menschliche Schicksale: Was ME/CFS für Betroffene und Angehörige bedeutet
Hinter all den Zahlen und Debatten stehen ganz reale Menschen mit ihren Geschichten. ME/CFS kann das Leben eines Menschen in grausamer Weise verändern. Viele waren zuvor aktiv, gesund, mitten im Leben – und finden sich plötzlich in einem regelrechten Albtraum wieder. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen:
Cassandra Helfer aus Thun erkrankte mit 16 Jahren nach einer Virusinfektion (Pfeiffersches Drüsenfieber). Aus der sportlichen jungen Frau wurde binnen kurzer Zeit eine chronisch Kranke. Heute, mit Ende 20, ist Cassandra größtenteils ans Haus gebunden. “Wenn ich aufwache, ist mir direkt schwindlig und schlecht. Ich kriege Herzrasen und meine Glieder sind wie tot”, beschreibt sie ihren Start in den Tag . Oft schafft sie es nur wenige Stunden auf den Beinen, bevor ihr Körper sie wieder lahmlegt. Ihren erlernten Beruf musste sie aufgeben. Ohne die Unterstützung ihres Partners Jonas würde sie den Alltag kaum bewältigen. Jonas kocht und wäscht für sie mit, begleitet sie zu Arztterminen – eine Rolle, auf die nichts ihn vorbereitet hat. Doch die beiden meistern es gemeinsam. “Schwer krank zu sein, ist schlimm genug. Aber wenn noch Armut und Einsamkeit dazukommen, wird es noch schlimmer”, sagt Cassandra. Umso wichtiger ist für sie der Rückhalt durch ihren Partner und die Hoffnung, dass die Krankheit eines Tages besser verstanden wird.
Noch härter hat es Marco Muraro getroffen, einen 50-jährigen ehemaligen IT-Fachmann und Tätowierer aus der Region Zürich . Er infizierte sich Ende 2019 mit einem Virus – vermutlich dem Coronavirus – und entwickelte daraus ME/CFS. Heute verbringt Marco 23 Stunden täglich auf seinem Bett oder Sofa . Sein Zimmer ist abgedunkelt, weil Licht ihm Schmerzen bereitet. An manchen Tagen kann er nicht einmal mehr aufrecht sitzen oder essen. Aufzustehen ist unmöglich, selbst Kauen strengt zu sehr an . Ärzte haben bei ihm einen der schwersten Schweregrade festgestellt: Bell-Score 10 von 100 (0 bedeutet völlig bettlägerig, 100 gesund) . Inzwischen benötigt er einen Rollstuhl, nur um die kurze Strecke zur Toilette zu bewältigen . Marcos ausführliche persönliche Geschichte haben wir bereits auf ichbinkeineinzelfall.ch geteilt . Sie ist ein erschütterndes Zeugnis dessen, was Long COVID und ME/CFS für einen Menschen bedeuten können – physisch, psychisch und sozial. Seine Ehe zerbrach unter der Belastung, seine Karrierepläne liegen in Trümmern . Heute lebt Marco von der Sozialhilfe; zwischendurch pflegt ihn seine 82-jährige Mutter, da professionelle Pflege nicht lückenlos verfügbar ist . „Eigentlich müsste es doch umgekehrt sein“, sagt er mit Blick auf seine betagte Mutter, die nun den Sohn versorgt . Die Krankheit hat alles auf den Kopf gestellt. Zukunftspläne? Mussten aufgegeben werden – sogar eine lang ersehnte Reise mit seinem Sohn fiel ins Wasser . Stattdessen quälen Gedanken an die Zukunft und die Frage, wie lange man das noch durchhält.
Ein sehr schwerer ME/CFS-Fall: Aufgrund von Magenl\u00e4hmung und Unvertr\u00e4glichkeiten kann dieser Patient nicht mehr normal essen und erh\u00e4lt seine Nahrung \u00fcber Infusionen. Wegen extremer Lichtempfindlichkeit tr\u00e4gt er selbst in Innenr\u00e4umen eine Augenbinde. Solche Beispiele machen deutlich, wie drastisch ME/CFS den K\u00f6rper schw\u00e4chen kann.
Solche menschlichen Schicksale zeigen die Bandbreite der Krankheit: von schwer eingeschränkt bis hin zu absolut verheerend. Doch auch die weniger schweren Fälle sind alles andere als „leicht“ – selbst „milde“ ME/CFS kann bedeuten, nur noch halbtags arbeiten zu können und den Rest des Tages erschöpft zu sein, oder kein soziales Leben mehr führen zu können, weil jede Aktivität sorgfältig eingeteilt werden muss (Pacing nennt man die Kunst, seine geringe Energie hauszuhalten). Viele Betroffene beschreiben das Leben mit ME/CFS als ständigen Balanceakt auf dünnem Seil: Kleine Überanstrengungen rächen sich, aber vollständige Schonung ist ebenso unmöglich, wenn man z.B. Familie hat. Angehörige stehen oft vor einer großen Herausforderung. Eltern sehen ihre zuvor lebensfrohen Kinder dauerhaft krank werden. Partner übernehmen plötzlich Pflegeaufgaben. Das soziale Umfeld zieht sich leider nicht selten zurück, weil es schwer fällt, das Ausmaß der Krankheit nachzuvollziehen. Umso wichtiger sind einzelne Unterstützer: Familienmitglieder und Freunde, die trotz allem bleiben, helfen und glauben. Sie sind die stillen Helden im Hintergrund, die den Kranken Halt geben. Doch auch sie geraten an Grenzen – die Last der Angehörigen kann enorm sein, von emotionaler Überforderung bis hin zu finanziellen Schwierigkeiten, wenn z.B. ein Hauptverdiener ausfällt .
Jeder ME/CFS-Patientin hat eine einzigartige Geschichte, doch ein Aspekt verbindet alle: das Gefühl, unsichtbar zu sein. Weil viele das Haus kaum noch verlassen können, verschwinden sie aus dem Blickfeld der Gesellschaft – „Missing Millions“ nennt man sie international, die Millionen Fehlenden, die weder im Berufsleben noch im öffentlichen Raum auftauchen . Diese unsichtbare Welt der ME/CFS-Betroffenen verdient unsere Aufmerksamkeit. Jeder einzelne Fall ist einer zu viel, in dem ein Mensch seiner Lebensqualität beraubt wurde.
Die Bedeutung von Gemeinschaft und Unterstützung
Angesichts der vielschichtigen Herausforderungen, die ME/CFS mit sich bringt, ist Solidarität goldwert. Niemand sollte mit dieser Krankheit allein bleiben müssen. Genau hier kommen Patientengemeinschaften und Initiativen ins Spiel. In den letzten Jahren haben sich – gerade auch in der Schweiz – Betroffene vernetzt, um sich gegenseitig zu helfen und Gehör zu verschaffen. Eine davon ist die Plattform ichbinkeineinzelfall.ch. Der Name ist Programm: “Ich bin kein Einzelfall” – denn gemeinsam wollen die Betroffenen zeigen, dass ME/CFS kein Randphänomen ist.
Eine Gemeinschaft wie ichbinkeineinzelfall.ch bietet mehreren unschätzbaren Mehrwert: Zum einen schafft sie Sichtbarkeit. Geschichten wie die von Marco oder Cassandra bekommen eine Bühne, anstatt im Verborgenen zu bleiben . Die Erfahrungsberichte machen deutlich, dass hier echte Menschen leiden – und sie sorgen dafür, dass Long COVID und ME/CFS nicht in Vergessenheit geraten, sondern im Gespräch bleiben . Zweitens vermittelt die Community Zusammenhalt und Verständnis. Im Austausch mit anderen merken Betroffene: Ich bin nicht alleine. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit ist enorm wichtig, gerade weil das persönliche Umfeld die Krankheit oft nicht versteht . Ein Online-Forum oder eine Selbsthilfegruppe kann so zum Rettungsanker werden – man teilt Tipps, macht sich Mut und fühlt sich endlich mal verstanden. Drittens dient die Gemeinschaft dem Informationsaustausch: Von praktischen Ratschlägen im Umgang mit der IV oder Ärzten, über Erfahrungen mit Medikamenten bis hin zu neuen Forschungserkenntnissen – das kollektive Wissen hilft jedem Einzelnen, bessere Entscheidungen zu treffen . Und nicht zuletzt entsteht aus der Gemeinschaft auch eine Stimme nach außen, ein politisches Gewicht. Zusammen kann man Petitionen starten, Medien auf Missstände aufmerksam machen oder – wie bei Millions Missing – öffentliche Aktionen organisieren . Viele Betroffene engagieren sich trotz ihrer geringen Energie für Aufklärung, weil sie hoffen, damit langfristig Veränderungen zu bewirken.
Auch wer Angehöriger oder einfach Interessierter ist, kann solche Plattformen nutzen, um dazuzulernen und Unterstützung anzubieten. Die ME/CFS-Community heißt im Grunde jeden willkommen, der mithelfen will, das Schweigen zu durchbrechen. Inzwischen gibt es auch Kooperationen mit Ärzten, Anwälten und anderen Fachleuten, die ihr Know-how einbringen und Betroffene beraten . All das war vor einigen Jahren kaum vorstellbar – umso bemerkenswerter, was Patienteninitiativen bereits erreicht haben.
Zum Abschluss ein Appell: Schauen wir hin und hören wir zu. ME/CFS-Patienten sind keine „faulen“ Menschen und Long COVID ist nicht einfach „Einbildung“. Es sind unsere Mitmenschen – vielleicht die Nachbarin, die seit Monaten nicht mehr joggen geht, oder der Kollege, der sich krankgemeldet hat und nicht zurückkehrt. Sie kämpfen einen stillen Kampf, den keiner sieht. Lassen wir sie nicht im Stich. Gesellschaft, Medizin und Politik in der Schweiz sind gefordert, dieser Krankheit die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient: durch mehr Forschungsgelder, durch Ausbildung von Ärzten, durch Anpassungen im IV-System und vor allem durch Empathie.
Wenn du selbst betroffen bist oder jemanden kennst, der mit ähnlichen Herausforderungen kämpft: Du bist nicht allein!Tausche dich mit anderen aus, informiere dich und hol dir Unterstützung. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel die Plattform ichbinkeineinzelfall.ch, auf der Betroffene ihre persönlichen Geschichten teilen und miteinander ins Gespräch kommen können. Jede geteilte Erfahrung trägt dazu bei, das Bewusstsein für ME/CFS und Long COVID zu schärfen und zeigt anderen Erkrankten: Es gibt Menschen, die dich verstehen. Gemeinsam können wir erreichen, dass ME/CFS aus dem Schatten tritt – damit kein schwer kranker Mensch mehr als „Einzelfall“ abgetan wird.
Weiterführende Links:
• Persönliche Geschichte von Marco M. (Long COVID) – Marcos eigene Schilderung seiner Erkrankung und Lebenssituation auf ichbinkeineinzelfall.ch.