
Quelle: AargauerZeitung und AargauerZeitung
Die Morgenroutine beginnt mit einer einfachen Frage: Wie fühle ich mich heute? Für viele Menschen in der Schweiz, die mit Long Covid leben, ist diese Frage alles andere als trivial. Stattdessen entscheidet sie über den gesamten Tagesverlauf. Werde ich heute aufstehen können? Werde ich meine Kinder zur Schule bringen können? Werde ich arbeiten können? Oder wird die bleierne Erschöpfung, die kognitive Beeinträchtigung und die Atemnot mich wieder in einen Zustand versetzen, den Außenstehende kaum nachvollziehen können?
- Die unsichtbare Pandemie nach der Pandemie
- Der lange Weg zur Anerkennung und Behandlung
- Politische Dimension: Wenn Hilferufe ungehört bleiben
- Soziale und finanzielle Auswirkungen
- "Ich bin kein Einzelfall": Gemeinschaft als Ressource
- Leben mit Long Covid: Strategien und Hoffnung
- Die Rolle der Gesellschaft: Anerkennung und Unterstützung
- Forschung und Zukunftsperspektiven
- Ein Appell für mehr Verständnis und Unterstützung
Die unsichtbare Pandemie nach der Pandemie
Long Covid hat sich als die leise Folgeerkrankung der COVID-19-Pandemie etabliert. Während die akute Krise überwunden scheint, kämpfen hunderttausende Menschen in der Schweiz mit den Langzeitfolgen einer Infektion. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sind etwa 3,3 Prozent der europäischen Bevölkerung von Long Covid betroffen. Übertragen auf die Schweiz wären das rund 300’000 Menschen. Eine beeindruckende Zahl, die jedoch oft im Verborgenen bleibt.
Die Symptome sind vielfältig und komplex: Von extremer Erschöpfung (Fatigue) über anhaltende Atembeschwerden, Herzrasen, Konzentrationsstörungen, Gedächtnisprobleme bis hin zu Muskel und Gliederschmerzen. Für die Betroffenen bedeutet dies oft eine komplette Umstellung ihres Lebens. Aktivitäten, die früher selbstverständlich waren, werden zu unüberwindbaren Hürden.
“Vor meiner Erkrankung war ich ein aktiver Mensch, habe Sport getrieben, mich mit Freunden getroffen und Vollzeit gearbeitet. Heute muss ich genau überlegen, ob ich die Energie habe, einkaufen zu gehen oder einen Freund zu treffen. Arbeit im alten Umfang ist undenkbar,” berichten viele Betroffene auf der Plattform Ich bin kein Einzelfall, die persönliche Geschichten von Long-Covid-Betroffenen sammelt.
Der lange Weg zur Anerkennung und Behandlung
Ein besonders frustrierender Aspekt für viele Betroffene ist der lange Weg zur Diagnose und Anerkennung ihrer Erkrankung. Long Covid ist eine relativ neue Erkrankung, für die es noch keinen eindeutigen Biomarker oder diagnostischen Test gibt. Die Symptome ähneln anderen chronischen Erkrankungen wie dem Chronischen Fatigue Syndrom (ME/CFS), Fibromyalgie oder Post-Viral-Syndromen. Dies führt oft dazu, dass Betroffene von Arzt zu Arzt wandern, ohne eine klare Diagnose oder einen Behandlungsplan zu erhalten.
Die Situation im Kanton Aargau illustriert diese Problematik beispielhaft. Hier wurden seit 2020 im Kantonsspital Baden (KSB) insgesamt 353 Patientinnen und Patienten in der Long-Covid-Sprechstunde betreut. Der Frauenanteil liegt bei 66 Prozent, was die internationalen Daten widerspiegelt, dass Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Die Nachfrage war im Jahr 2022 mit 161 neuen Patientinnen und Patienten am größten, in den Jahren 2023 und 2024 blieb sie relativ konstant.
Petra Ferrari-Pedrini, die Leiterin der Long-Covid-Sprechstunde am KSB, betont: “Es gibt kein medizinisches Standardprozedere und kein Allheilmittel. Das führt dazu, dass die Betreuung und Behandlung sehr zeitaufwendig sind. Wir versuchen es mit unterschiedlichen Ansätzen, da jeder Patient anders auf eine Behandlung anspricht.”
Diese individuelle Betreuung ist zwar wichtig, verdeutlicht aber auch die Herausforderungen im Gesundheitssystem. Während einige spezialisierte Kliniken und Ärzte bereits gute Arbeit leisten, fehlt es an einer flächendeckenden, standardisierten Versorgung. Viele Betroffene berichten von langen Wartezeiten für Termine in Spezialsprechstunden und einem Mangel an umfassenden Therapieangeboten.
Politische Dimension: Wenn Hilferufe ungehört bleiben
Die Versorgungslage für Long-Covid-Betroffene sei unzureichend, eine einheitliche Strategie fehle und der Zugang zu umfassenden Therapien sei nicht gewährleistet. Zu diesem Schluss kamen die vier Grossrätinnen Lelia Hunziker, Barbara Stocker Kalberer, Lucia Engeli (alle SP) und Béa Bieber (GLP) in einer Interpellation an den Aargauer Regierungsrat. Sie forderten unter anderem die Einrichtung eines Kompetenzzentrums für Long-Covid-Patientinnen und Patienten sowie eine Leitlinie für Schulen und Arbeitgebende.
Die Antwort des Regierungsrats fiel jedoch ernüchternd aus: Er ist mit den bestehenden Angeboten zufrieden und sieht keinen Handlungsbedarf. Die Versorgungsstruktur sei “angemessen”, eine zusätzliche Bündelung der Ressourcen in Form eines kantonalen oder interkantonalen Kompetenzzentrums ziehe man derzeit nicht in Betracht. Auch eine kantonale Leitlinie für Schulen und Arbeitgebende zum Umgang mit Long-Covid-Betroffenen will der Kanton mit Verweis auf existierende Leitlinien des Bundes nicht entwickeln.
Diese politische Zurückhaltung spiegelt eine breitere gesellschaftliche Tendenz wider: Long Covid wird oft nicht als die ernsthafte, lebensverändernde Erkrankung anerkannt, die sie für viele Betroffene ist. Stattdessen wird erwartet, dass Betroffene sich selbst durch das komplexe System aus medizinischer Versorgung, Arbeitsrecht und Sozialversicherungen navigieren.
Soziale und finanzielle Auswirkungen
Die Folgen von Long Covid gehen weit über die medizinischen Symptome hinaus. Viele Betroffene können nicht mehr oder nur noch teilweise arbeiten, was zu erheblichen finanziellen Einbußen führt. Der Weg zur Anerkennung durch die Invalidenversicherung (IV) ist oft lang und beschwerlich.
Bei der SVA Aargau gingen im Jahr 2024 48 IV-Anmeldungen aufgrund einer Long-Covid-Erkrankung ein. In den Vorjahren war die Zahl deutlich höher: 2023 wurden 114 Personen mit Long Covid erfasst, 2022 waren es 126. Diese Zahlen verdeutlichen einerseits die Schwere der Erkrankung, die bei vielen zu langfristiger Arbeitsunfähigkeit führt, andererseits aber auch den Rückgang der Neuerkrankungen mit dem Abflauen der akuten Pandemie.
Rund zwei Drittel der IV-Anmeldungen betreffen Frauen, und der größte Anteil der Anmeldungen (33,3 Prozent) betrifft Personen zwischen 46 und 55 Jahren, gefolgt von den 56 bis 65-Jährigen (31,3 Prozent). Diese Altersverteilung zeigt, dass Long Covid besonders Menschen im erwerbsfähigen Alter trifft, was die volkswirtschaftlichen Kosten der Erkrankung unterstreicht.
Die betroffenen Personen werden in erster Linie mit beruflichen Eingliederungsmaßnahmen unterstützt. Doch viele Betroffene berichten, dass diese Maßnahmen oft nicht ausreichend auf die spezifischen Bedürfnisse von Long-Covid-Patienten zugeschnitten sind. Insbesondere die fluktuierende Natur der Erkrankung, bei der gute und schlechte Tage sich abwechseln können, passt nicht in das starre System der Arbeitsintegration.
“Ich bin kein Einzelfall”: Gemeinschaft als Ressource
In dieser schwierigen Situation ist die Gemeinschaft mit anderen Betroffenen oft eine wichtige Ressource. Die Initiative Ich bin kein Einzelfall hat es sich zur Aufgabe gemacht, Long-Covid-Betroffenen eine Stimme zu geben, sie zu vernetzen und ihnen praktische Unterstützung zu bieten.
Die Plattform sammelt persönliche Geschichten, teilt aktuelle Informationen zur Forschung und Behandlung von Long Covid und bietet praktische Ratschläge für den Alltag mit der Erkrankung. Besonders wertvoll sind die Erfahrungsberichte anderer Betroffener, die zeigen: Du bist nicht allein mit deinen Symptomen, deinen Ängsten und deiner Frustration.
Der Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, kann ungemein entlastend sein. Oft sind es kleine Tipps und Tricks, die den Alltag erleichtern können: Wie man seine Energie einteilt (Pacing), welche Hilfsmittel im Haushalt nützlich sein können oder wie man Gespräche mit Ärzten, Arbeitgebern oder Versicherungen am besten führt.
Die Community bietet auch emotionale Unterstützung in Zeiten, in denen Familie und Freunde vielleicht nicht mehr verstehen können, warum die Genesung so lange dauert oder warum bestimmte Aktivitäten nicht mehr möglich sind. Der Satz “Aber du siehst doch gut aus” ist für viele Long-Covid-Betroffene ein Trigger, weil er die Unsichtbarkeit ihrer Erkrankung verdeutlicht.
Durch verschiedene Mitgliedschaftsoptionen können Betroffene Teil dieser unterstützenden Gemeinschaft werden und gleichzeitig dazu beitragen, dass die Plattform ihre wichtige Arbeit fortsetzen kann.
Leben mit Long Covid: Strategien und Hoffnung
Leben mit Long Covid bedeutet, neue Wege zu finden. Viele Betroffene berichten, dass sie lernen mussten, ihre Grenzen zu akzeptieren und ihre Erwartungen anzupassen. Das bedeutet nicht, die Hoffnung auf Besserung aufzugeben, sondern vielmehr, einen realistischen und nachhaltigen Umgang mit der Erkrankung zu finden.
Einige Strategien, die Betroffenen helfen können:
- Pacing: Die sorgfältige Einteilung der verfügbaren Energie ist für viele der Schlüssel, um Crashs zu vermeiden. Das bedeutet, Aktivitäten zu planen, regelmäßige Pausen einzulegen und die eigenen Grenzen zu respektieren.
- Priorisierung: Was ist wirklich wichtig? Viele Betroffene berichten, dass sie lernen mussten, Prioritäten zu setzen und bestimmte Aktivitäten aufzugeben, um Energie für das Wesentliche zu haben.
- Medizinische Betreuung: Eine gute medizinische Betreuung ist essenziell. Idealerweise findet man Ärzte, die Erfahrung mit Long Covid haben oder bereit sind, sich einzuarbeiten und die Symptome ernst zu nehmen.
- Symptommanagement: Verschiedene Therapieansätze können helfen, einzelne Symptome zu lindern, von Atemübungen über kognitives Training bis hin zu Physiotherapie.
- Soziale Unterstützung: Der Austausch mit anderen Betroffenen, aber auch offene Gespräche mit Familie, Freunden und Arbeitgebern können helfen, Verständnis zu schaffen und praktische Unterstützung zu organisieren.
- Selbstfürsorge: Ausreichend Ruhe, eine gesunde Ernährung und sanfte Bewegung im Rahmen der eigenen Möglichkeiten können das Wohlbefinden verbessern.
- Hoffnung bewahren: Die Forschung zu Long Covid schreitet voran, neue Erkenntnisse und Behandlungsansätze werden entwickelt. Es gibt Berichte von Betroffenen, die sich über die Zeit verbessert haben.
Die Rolle der Gesellschaft: Anerkennung und Unterstützung
Als Gesellschaft stehen wir vor der Herausforderung, Long Covid als das anzuerkennen, was es ist: eine ernsthafte, oft langwierige Erkrankung, die umfassende Unterstützung erfordert. Dies beginnt bei der medizinischen Versorgung, die flächendeckend, interdisziplinär und auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten sein sollte.
Arbeitgeber können einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie flexible Arbeitsmodelle anbieten und Verständnis für die fluktuierende Natur der Erkrankung zeigen. Auch Schulen und Bildungseinrichtungen sollten Konzepte entwickeln, wie betroffene Schülerinnen und Schüler oder Studierende unterstützt werden können.
Die Sozialversicherungen, insbesondere die Invalidenversicherung, sollten ihre Prozesse an die Realität von Long Covid anpassen und sicherstellen, dass Betroffene die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, ohne durch langwierige und belastende Verfahren zusätzlich belastet zu werden.
Nicht zuletzt ist es wichtig, das Bewusstsein für Long Covid in der breiten Öffentlichkeit zu schärfen. Nur wenn die unsichtbare Erkrankung sichtbar wird, kann sie angemessen adressiert werden.
Forschung und Zukunftsperspektiven
Die Forschung zu Long Covid hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Wissenschaftler weltweit arbeiten daran, die Ursachen und Mechanismen der Erkrankung besser zu verstehen und wirksame Behandlungen zu entwickeln.
Einige vielversprechende Forschungsrichtungen umfassen:
- Autoimmunprozesse: Es gibt Hinweise darauf, dass bei Long Covid Autoantikörper eine Rolle spielen könnten, die verschiedene Organsysteme angreifen.
- Mikrogerinnsel: Forscher haben bei Long-Covid-Patienten vermehrt kleine Blutgerinnsel gefunden, die die Durchblutung beeinträchtigen könnten.
- Virale Persistenz: Möglicherweise verbleiben Virusreste im Körper und lösen eine anhaltende Immunreaktion aus.
- Mitochondriale Dysfunktion: Die Kraftwerke der Zellen könnten durch die Infektion geschädigt sein, was die extreme Erschöpfung erklären würde.
- Neurologische Veränderungen: Bildgebende Verfahren haben bei einigen Patienten Veränderungen im Gehirn nachgewiesen.
Diese Forschungsansätze geben Hoffnung, dass in Zukunft gezieltere Behandlungen entwickelt werden können. Bereits jetzt gibt es vielversprechende Therapieansätze, von antiviralen Medikamenten über Blutverdünner bis hin zu gezielten Rehabilitationsprogrammen.
Ein Appell für mehr Verständnis und Unterstützung
Long Covid stellt uns als Gesellschaft vor eine neue Herausforderung. Eine große Zahl von Menschen ist durch eine komplexe, chronische Erkrankung in ihrem Alltag und ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt. Dies erfordert neue Ansätze in der medizinischen Versorgung, im Arbeits und Bildungswesen sowie in den Sozialversicherungen.
Der Regierungsrat des Kantons Aargau mag derzeit keinen Handlungsbedarf sehen, die Erfahrungen der Betroffenen zeigen jedoch ein anderes Bild. Es fehlt an einer koordinierten Strategie, an spezialisierten Anlaufstellen und an klaren Leitlinien für den Umgang mit Long Covid in verschiedenen Lebensbereichen.
Initiativen wie Ich bin kein Einzelfall leisten einen wichtigen Beitrag, indem sie Betroffene vernetzen, Informationen bereitstellen und die Öffentlichkeit sensibilisieren. Doch letztlich braucht es ein gesamtgesellschaftliches Engagement, um Long-Covid-Betroffenen die Unterstützung zu bieten, die sie benötigen.
Als Gesellschaft sollten wir uns fragen: Wie gehen wir mit Menschen um, die durch eine Erkrankung, die aus einer globalen Gesundheitskrise entstanden ist, langfristig beeinträchtigt sind? Sind wir bereit, die nötigen Ressourcen bereitzustellen, um ihnen ein würdevolles Leben zu ermöglichen? Und was können wir aus der aktuellen Situation lernen, um bei künftigen Gesundheitsherausforderungen besser vorbereitet zu sein?
Long Covid wird uns als Gesellschaft noch lange beschäftigen. Es liegt an uns allen, ob wir die Betroffenen auf ihrem schwierigen Weg allein lassen oder ob wir ihnen mit Verständnis, Empathie und konkreter Unterstützung zur Seite stehen. Denn letztlich könnte jeder von uns betroffen sein.
Wenn du selbst mit Long Covid lebst oder jemanden kennst, der betroffen ist, findest du auf Ich bin kein Einzelfall Informationen, Unterstützung und eine Gemeinschaft von Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen. Denn eines ist sicher: Du bist kein Einzelfall.