Kreatives Schaffen als Heilungsweg: Wie die Fotografin Monika Grossen ihren Weg durch Long COVID dokumentiert

Foto © Patrick Lehmann (2018)

Quelle: DerBund.ch

Vom Krankenbett zur Fotoausstellung – Monika Grossens Reise durch den “LoCo Kosmos”

Wenn chronische Krankheit den Alltag überschattet, versiegt bei vielen Menschen die kreative Kraft. Bei Monika Grossen war es umgekehrt: Die 44-jährige Bernerin entdeckte während ihrer Long-COVID-Erkrankung die Fotografie als heilsames Medium und schuf dabei beeindruckende Bilder, die nun unter dem Titel “LoCo Kosmos” im Restaurant Dock 8 in der Berner Warmbächli-Siedlung ausgestellt sind.

Ihre Geschichte ist beispielhaft für viele Long-COVID-Betroffene und zeigt zugleich einen ungewöhnlichen Weg der persönlichen Bewältigung dieser noch immer rätselhaften Erkrankung.

Der Beginn einer unfreiwilligen Reise

Im Februar 2022 erkrankte Grossen an COVID-19. Was zunächst wie eine moderate Infektion mit ausgeprägter Müdigkeit erschien, entpuppte sich als Beginn einer langwierigen Krankheitsgeschichte. Die studierte Sozialarbeiterin, die zuvor in der Arbeitsintegration mit Menschen mit psychischen Belastungen gearbeitet hatte, versuchte nach zwei Wochen Bettruhe, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.

“Schon am ersten Tag nach meiner Rückkehr merkte ich, dass es mir extrem schwerfiel, mich zu konzentrieren, ich war müde und kraftlos”, erzählt sie. Die Diagnose folgte bald: Long COVID mit “schwerer motorischer und kognitiver Fatigue”, wie es im Bericht des Inselspitals heißt.

Was folgte, kennen viele Betroffene dieser Erkrankung: monatelange Bettruhe, chronische Erschöpfung und die quälende Ungewissheit, ob und wann Besserung eintreten würde. “Wenn ich morgens erwachte, fühlte ich mich schon total erschöpft”, beschreibt Grossen ihren Zustand. “Der Akku konnte sich einfach nicht mehr aufladen.”

Wenn die Kamera zum Verbündeten wird

Ein unscheinbarer Moment im Sommer 2022 sollte für Grossen zum Wendepunkt werden – zumindest, was ihre geistige Bewältigung der Erkrankung betraf. Auf dem Weg zu einem Termin am Inselspital fiel ihr Blick auf eine Blume, die durch einen Spalt im Beton gewachsen war. “Das hat mich an meine eigene Situation erinnert, an die Widerstände, durch die ich hindurch musste”, erzählt sie. Intuitiv griff sie zum Smartphone und machte ein Foto.

Dieser Moment markierte den Beginn einer Reise, die weit über das reine Fotografieren hinausging. In den darauf folgenden Wochen und Monaten wurde die Kamera für Grossen zu einem treuen Begleiter – ein Werkzeug, das ihr ermöglichte, aus der lähmenden Passivität des Krankseins auszubrechen und aktiv zu gestalten. Bei ihren zunehmend regulären, aber kurzen Spaziergängen, die Teil ihres Genesungsprozesses waren, entwickelte sie einen geschärften Blick für die Symbolik im Alltäglichen.

Wo andere Menschen vielleicht achtlos vorbeigegangen wären, entdeckte Grossen bildgewordene Metaphern ihrer eigenen Situation: einen vereinzelten Grashalm, der sich durch Asphalt kämpft; Lichtreflexionen in Pfützen, die trotz trüber Umgebung strahlen; oder die fragmentierte Welt in den Scherben eines zerbrochenen Spiegels.

“Das Fotografieren hat mir eine Sprache gegeben, als mir die Worte fehlten”, erklärt Grossen. “Wenn der Körper versagt und selbst das Denken anstrengend wird, braucht man andere Wege, um sich auszudrücken.” Die Kamera wurde zum Übersetzungswerkzeug für ihre innere Erfahrungswelt – ein Brückenschlag zwischen dem isolierten Raum der Krankheit und der äußeren Welt.

Die Poesie des Überlebens im Bild

Die in ihrer Ausstellung “LoCo Kosmos” gezeigten Fotografien gehen weit über dokumentarische Schnappschüsse hinaus. Mit künstlerischem Gespür komponiert Grossen ihre Bilder so, dass sie mehrere Bedeutungsebenen transportieren. Da ist die rote Spiraltreppe, die sich scheinbar endlos nach oben windet – ein kraftvolles Symbol für den mühsamen Aufstieg aus der Krankheit, bei dem jede Stufe ein kleiner Sieg ist, aber das Ziel oft außer Sichtweite bleibt.

Besonders eindrucksvoll ist ihre Serie über natürliche Widerstandskraft: Der vereiste Krautstiel, den sie “Resilienz” nannte, steht mit seinen glitzernden Eiskristallen wie ein trotziges Statement gegen widrige Umstände. Das Bild fängt nicht nur die physische Schönheit des Moments ein, sondern lädt den Betrachter ein, über die eigene Widerstandsfähigkeit nachzudenken.

In einer anderen bemerkenswerten Aufnahme zeigt Grossen einen dichten Bambuswald, dessen unzählige Stämme wie Gitterstäbe wirken. “Kein Ziel in Sicht” nannte sie dieses Bild – eine Anspielung auf das Gefühl der Ausweglosigkeit, das viele chronisch Kranke kennen. Gleichzeitig lässt die Komposition mit ihren vertikalen Linien und dem satten Grün auch eine andere Lesart zu: Die Stämme als Symbole der Standhaftigkeit, die trotz allem aufrecht bleiben.

Die Dualität von Begrenzung und Durchhalten, von Eingeschlossensein und gleichzeitiger innerer Freiheit zieht sich wie ein roter Faden durch Grossens Werk. “Ich habe gelernt, Ambivalenz auszuhalten”, sagt sie. “In meinen Bildern darf beides sein: die Schwere der Krankheit und die Schönheit des Moments.”

Kunst als Überlebensstrategie

Für Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Long COVID kann der Alltag zu einem endlosen Kampf werden – nicht nur gegen körperliche Einschränkungen, sondern auch gegen den drohenden Verlust der eigenen Identität. Wer bin ich, wenn ich nicht mehr arbeiten kann? Was bleibt von mir, wenn meine Kraft nicht einmal fürs Lesen reicht?

Monika Grossen fand in der Fotografie eine Antwort auf diese existenziellen Fragen. “Als Sozialarbeiterin war ich es gewohnt, anderen zu helfen, Probleme zu lösen und aktiv zu sein”, reflektiert sie. “Plötzlich war ich diejenige, die Hilfe brauchte. Die Fotografie hat mir erlaubt, wieder Gestalterin zu sein – wenn auch in einem völlig anderen Bereich als zuvor.”

Das kreative Schaffen wurde für sie zu einer Form der Selbstbehauptung gegen die identitätsbedrohende Wirkung der Krankheit. Jedes Bild, das sie aufnahm, war ein Statement: Ich bin mehr als meine Erschöpfung. Ich kann noch schaffen, beobachten, gestalten.

“Wenn ich fotografierte, war ich weit weg von der Krankheit. Ich konzentrierte mich auf etwas, das außerhalb von mir war. Dabei fühlte ich mich völlig frei”, beschreibt Grossen diese befreiende Wirkung. In Momenten des Fotografierens trat die Krankheit in den Hintergrund – nicht physisch, aber mental. Diese kurzen Ausbrüche aus dem Gefängnis der Symptome wurden zu kostbaren Inseln im Meer der Erschöpfung.

Besonders bewegend ist, wie Grossen ihre künstlerische Praxis mit dem notwendigen “Pacing” – dem sorgfältigen Energiemanagement – verbinden konnte. Anders als viele andere Aktivitäten erforderte das Fotografieren keine durchgehende körperliche Anstrengung. Ein Moment der Inspiration, ein schneller Griff zur Kamera, ein kurzer Fokus – und der Rest, die Bearbeitung, die Reflexion, konnte später erfolgen, wenn die Energie es zuließ.

Sichtbarmachen des Unsichtbaren

Eine der größten Herausforderungen für Menschen mit Long COVID ist die Unsichtbarkeit ihrer Erkrankung. “Man sieht uns nichts an”, sagt Grossen. “Auf den ersten Blick wirken wir gesund, niemand kann unsere Erschöpfung, unsere Schmerzen oder die kognitive Beeinträchtigung von außen erkennen.”

Diese Unsichtbarkeit führt oft zu schmerzlichen Erfahrungen: Unverständnis im sozialen Umfeld, Zweifel an der Legitimität der Erkrankung, oder der implizite Vorwurf, man strenge sich nicht genug an. Gleichzeitig fehlen vielen Betroffenen die Worte, um ihre Erfahrungen zu beschreiben – wie erklärt man jemandem das Gefühl einer “kognitiven Fatigue” oder die lähmende Erschöpfung, die schon durch einfachste Alltagshandlungen ausgelöst werden kann?

Grossens Fotografien bieten hier einen einzigartigen Brückenschlag: Sie machen das Unsichtbare sichtbar, übersetzen innere Zustände in visuelle Metaphern, die auch für Außenstehende zugänglich sind. Ihr Bild “Crash” beispielsweise – der Blick in den Himmel durch kahle Äste, aufgenommen vom Boden aus – vermittelt eindrücklich das Gefühl, niedergeworfen zu sein, die Welt nur noch aus der Perspektive der Erschöpfung wahrnehmen zu können.

“Ich möchte mit meinen Bildern eine Sprache für das Unaussprechliche finden”, erklärt Grossen. “Wenn Worte versagen, können Bilder manchmal das ausdrücken, was wir fühlen.” Diese Übersetzungsleistung ist nicht nur für die Künstlerin selbst bedeutsam, sondern auch für andere Betroffene, die sich in den Bildern wiedererkennen, und für Angehörige, die durch die visuelle Sprache einen neuen Zugang zum Erleben ihrer erkrankten Familienmitglieder und Freunde finden können.

Der Mut zur Öffentlichkeit

Bereits während ihrer Erkrankung begann Grossen, ihre Fotografien in einem Blog auf ihrer Website zu veröffentlichen. Ein Schritt, der Mut erforderte, wie sie selbst sagt: “Krankheit ist nach wie vor ein Stigma, gilt in unserer Leistungsgesellschaft als Schwäche.”

Mit der öffentlichen Ausstellung ihrer Arbeiten im Dock 8 geht sie nun noch einen Schritt weiter. Ihre Bilder – entstanden in einer Zeit extremer Vulnerabilität – hängen nun an den Wänden eines öffentlichen Raums, sind Gesprächen, Blicken und Interpretationen ausgesetzt.

Diese Sichtbarkeit ist für Grossen mehr als eine persönliche Angelegenheit: “Ich habe mich auch exponiert, um anderen Betroffenen eine Stimme zu geben. Und um das Thema ‘Long Covid’ präsent zu halten.” In einer Zeit, in der die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Pandemiefolgen nachlässt, während gleichzeitig unzählige Menschen weiterhin mit den Langzeitfolgen kämpfen, wird ihr künstlerisches Schaffen auch zu einem politischen Statement.

Die Resonanz auf ihre Ausstellung gibt ihr Recht: Zahlreiche Besucher – darunter viele selbst von Long COVID Betroffene – finden in ihren Bildern eigene Erfahrungen wieder. “Eine Frau stand minutenlang vor meinem Bild der Spiraltreppe und hatte Tränen in den Augen”, erzählt Grossen. “Sie sagte mir später, dass sie sich zum ersten Mal wirklich gesehen fühlte in ihrem Kampf.”

Der lange Weg zurück ins Berufsleben

Wie für viele Long-COVID-Betroffene gestaltete sich der Weg zurück in den Beruf für Grossen schwierig und von Rückschlägen geprägt. Ein erster Versuch im Herbst 2022 scheiterte und führte zu einer erneuten Krankschreibung.

Seit Juni 2024 nimmt sie nun am Wiedereingliederungsprogramm “Firststep” der UPD (Universitäre Psychiatrische Dienste Bern) teil. Ausgerechnet sie, die früher als Sozialarbeiterin anderen bei der Arbeitsintegration half, steht nun auf der anderen Seite: “Nun arbeitete ich selber in einem geschützten Rahmen”, reflektiert sie diese Erfahrung, die ihr nicht nur neue berufliche, sondern auch persönliche Perspektiven eröffnete.

“Als Sozialarbeiterin kannte ich die Theorie der Arbeitsintegration, jetzt erlebe ich die Praxis – aus der Perspektive der Betroffenen”, sagt sie. Diese Erfahrung sei so wertvoll wie herausfordernd: “Ich verstehe jetzt viel tiefer, was es bedeutet, seine berufliche Identität neu finden zu müssen und mit eingeschränkten Ressourcen zu arbeiten.”

Die Vorbereitung ihrer Fotoausstellung war Teil dieses Wiedereingliederungsprozesses und eine “extrem nützliche Übung”, wie Grossen betont. Sie musste Termine koordinieren, Absprachen treffen, Fristen einhalten – alles Tätigkeiten, die kognitive Präsenz, Planungsfähigkeit und soziale Interaktion erfordern. Fähigkeiten, die durch Long COVID oft beeinträchtigt sind und behutsam wiederaufgebaut werden müssen.

Gleichzeitig war die Ausstellungsvorbereitung ein praktisches Übungsfeld für das “Pacing” – die sorgfältige Einteilung der verfügbaren Energie, die für Menschen mit Fatigue-Syndromen überlebenswichtig ist. “Ich musste lernen, meine Kräfte genau einzuschätzen”, erklärt Grossen. “Wann plane ich Gespräche mit der Galerie? Wann habe ich genug Energie, um Bildunterschriften zu formulieren? Wann muss ich eine Pause einlegen, um einen ‘Crash’ zu vermeiden?”

Dieses achtsame Energiemanagement ist eine Fähigkeit, die Betroffene oft mühsam erlernen müssen – und die sie auch im künftigen Berufsleben brauchen werden. In Grossens Fall hat sich die sorgfältige Planung ausgezahlt: Die Ausstellung wurde erfolgreich realisiert, ohne dass es zu schweren Rückfällen kam.

Ein neues Kapitel beginnt

Heute, nach drei Jahren mit Long COVID, steht Monika Grossen an einem entscheidenden Punkt ihrer Genesung. Die erfolgreiche Realisierung ihrer Ausstellung markiert einen wichtigen Meilenstein, der nächste Schritt – ein Arbeitstraining im ersten Arbeitsmarkt – steht unmittelbar bevor.

“Ich bin nicht mehr dieselbe wie vor der Erkrankung”, reflektiert sie. “Und ich werde auch nie wieder genau die Person sein, die ich war. Aber ich habe neue Seiten an mir entdeckt, neue Ausdrucksformen gefunden.” Die Fotografie, die als therapeutisches Mittel begann, ist inzwischen zu einer echten Leidenschaft geworden, die sie auch in Zukunft begleiten wird.

“Ich freue mich extrem auf ein neues Thema”, sagt sie mit leuchtenden Augen. Die schwerste Zeit mit Long COVID soll nun endgültig abgeschlossen sein – auch wenn die Krankheit Spuren hinterlassen hat, die vielleicht nie ganz verschwinden werden.

Ihr Weg ist ein Beispiel dafür, wie aus einer schmerzhaften Erfahrung auch etwas Neues, Wertvolles entstehen kann. Nicht als romantische Verklärung des Leidens, sondern als Zeugnis menschlicher Anpassungsfähigkeit und Kreativität selbst unter widrigsten Umständen.

Verbindung zu unserer Community: Du bist nicht allein

Geschichten wie die von Monika Grossen berühren uns besonders, weil sie zeigen, dass es auch inmitten der Dunkelheit chronischer Erkrankung Wege gibt, Sinn und Ausdrucksformen zu finden. Jeder Betroffene muss seinen eigenen Weg durch diese Erfahrung finden – für manche ist es die Kunst, für andere das Schreiben, die Musik oder das Engagement in einer Selbsthilfegemeinschaft.

Bei “Ich bin kein Einzelfall” wissen wir, wie wichtig es ist, solche persönlichen Wege sichtbar zu machen. Denn sie zeigen: Es gibt kein “richtiges” oder “falsches” Leben mit chronischer Krankheit. Es gibt nur individuelle Wege, mit ihr umzugehen – und alle sind gültig und wertvoll.

Vielleicht bist du selbst von Long COVID oder ME/CFS betroffen und erkennst dich in Monika Grossens Geschichte wieder. Vielleicht suchst du noch nach deinem eigenen Weg, mit deiner Erkrankung umzugehen. Oder vielleicht bist du ein Angehöriger, der besser verstehen will, was im Inneren eines chronisch kranken Menschen vorgeht.

Wofür auch immer du hierher gekommen bist: Wir möchten, dass du weißt – du bist nicht allein. Auf unserer Plattform findest du eine unterstützende Community von Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen, die verstehen, was es bedeutet, mit eingeschränkter Energie zu leben, und die bereit sind, ihre persönlichen Geschichten zu teilen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass etwa 1 von 22 COVID-Betroffenen ME/CFS entwickelt – du bist also wirklich nicht allein mit deinen Erfahrungen. Die Überschneidungen zwischen Long COVID und ME/CFS sind bemerkenswert, wie ein Bericht aus erster Hand auf unserer Plattform eindrücklich zeigt.

Möchtest du mehr über ME/CFS und die unsichtbare Krankheit hinter chronischer Erschöpfung erfahren oder suchst du einen Weg, dich mit anderen Betroffenen zu vernetzen? Dann schau dir unsere verschiedenen Mitgliedschaftsoptionen an und werde Teil unserer Gemeinschaft.

Wir laden dich ein, Teil unserer Community zu werden, deine eigene Geschichte zu teilen oder einfach nur zu lesen und zu wissen: Es gibt andere, die den gleichen Kampf kämpfen. Zusammen sind wir stärker, sichtbarer und können uns gegenseitig durch die schweren Zeiten tragen.

Monika Grossens Ausstellung “LoCo Kosmos” ist noch bis zum 9. April im Restaurant Dock 8 in Bern zu sehen. Weitere Informationen zu ihren Arbeiten finden Interessierte auf ihrer Website: www.larouxla.ch.

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