Die Liegedemo – Im Liegen auf ME/CFS aufmerksam machen

Quelle: Punkt 12 – Facebook.com

Wenn selbst das Stehen zu viel Energie kostet, bleibt für Betroffene der Myalgischen Enzephalomyelitis/des Chronischen Fatigue-Syndroms (ME/CFS) nur eine Möglichkeit, auf ihre Situation aufmerksam zu machen: die Liegedemo. Eine Demonstration, bei der Betroffene und Unterstützer:innen im Liegen für mehr Sichtbarkeit und Verständnis kämpfen.

Die Herausforderung, sichtbar zu werden, wenn die Krankheit unsichtbar macht

Was ist ME/CFS? Ursachen und Symptome der neuroimmunologischen Erkrankung – diese Frage stellt sich für viele Menschen noch immer. Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom ist eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung, die weltweit etwa 17 Millionen Menschen betrifft. Trotz ihrer Schwere und Verbreitung bleibt ME/CFS im öffentlichen Bewusstsein weitgehend unsichtbar – genau wie viele ihrer Betroffenen, die aufgrund der Erkrankung an ihr Zuhause oder sogar ans Bett gebunden sind.

Die Liegedemo gibt diesen „unsichtbaren Kranken” ein Gesicht und eine Stimme. Sie ist ein Symbol für die Einschränkungen, mit denen ME/CFS-Betroffene täglich leben müssen, und gleichzeitig ein kraftvoller Akt des Protests gegen die mangelnde Anerkennung und Versorgung.

Warum im Liegen demonstrieren?

Das Hauptsymptom von ME/CFS ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM) – eine starke Verschlimmerung aller Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung. Für viele Betroffene bedeutet schon das Stehen für wenige Minuten eine Überschreitung ihrer Energiegrenzen, die zu tagelangen „Crashs” führen kann.

Daher ist eine konventionelle Demonstration mit Marschieren, Stehen und Rufen für die meisten ME/CFS-Betroffenen schlicht unmöglich. Die Liegedemo ist somit nicht nur ein Protestmittel, sondern auch eine Notwendigkeit – sie ermöglicht Betroffenen, innerhalb ihrer Belastungsgrenzen auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Bei einer Liegedemo positionieren sich Teilnehmende auf Matten, Decken oder Feldbetten an öffentlichen Plätzen. Oft tragen sie Schilder mit Botschaften wie „Zu krank zum Stehen, zu krank zum Schweigen” oder „ME/CFS: Unsichtbar, aber real”. Diese Form des Protests ist in ihrer stillen Intensität oft wirkungsvoller als laute Kundgebungen – sie zwingt Passant:innen innezuhalten und sich mit der Realität der Erkrankung auseinanderzusetzen.

Aktivismus im Einklang mit dem Körper

Pacing bei ME/CFS: Energiemanagement im Alltag für Betroffene ist eine essenzielle Strategie für den Umgang mit der Erkrankung – und auch für den Aktivismus. Selbst bei einer Liegedemo müssen Betroffene sorgsam mit ihren Energiereserven haushalten.

Die Organisator:innen solcher Aktionen berücksichtigen die Bedürfnisse der Teilnehmenden: Es gibt ruhige Bereiche abseits des Trubels, flexible Teilnahmezeiten je nach individueller Belastbarkeit, und Helfer:innen unterstützen bei allem, was nötig ist. Für schwerer Betroffene, die nicht persönlich teilnehmen können, gibt es oft die Möglichkeit, virtuell dabei zu sein – durch Fotos oder Schilder mit ihren Namen und Geschichten.

Diese Form des „Pacing-Aktivismus” zeigt, dass politisches Engagement auch innerhalb der Grenzen schwerer Erkrankungen möglich ist – angepasst an die Realität der Betroffenen und nicht umgekehrt.

Die Liegedemo als Antwort auf ein versagendes System

ME/CFS und die Herausforderungen im Gesundheitssystem: Diagnose und Versorgung sind ein zentrales Thema bei jeder Liegedemo. Die Teilnehmenden protestieren gegen:

  • Die mangelhafte Ausbildung von Ärzt:innen zu ME/CFS
  • Die oft jahrelange Odyssee bis zur korrekten Diagnose
  • Das Fehlen spezialisierter Versorgungsstrukturen
  • Die fehlende Anerkennung der biomedizinischen Natur der Erkrankung
  • Die unzureichende Forschungsförderung

Durch die Liegedemo wird die paradoxe Situation vieler Betroffener sichtbar: Sie sind zu krank, um an ihrem eigenen Leben teilzunehmen, aber gleichzeitig müssen sie alle Kraft aufbringen, um für angemessene medizinische Versorgung zu kämpfen.

Gemeinsamer Kampf mit Long-COVID-Betroffenen

ME/CFS und Long COVID: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der postviralen Erkrankungen sind ein weiteres wichtiges Thema bei Liegedemos. Seit der COVID-19-Pandemie hat sich die Zahl der ME/CFS-Betroffenen deutlich erhöht, da etwa die Hälfte der langfristig von Long COVID Betroffenen die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllt.

Bei Liegedemos schließen sich daher häufig auch Long-COVID-Betroffene an. Diese Allianz verstärkt die politische Schlagkraft und hat dazu beigetragen, dass postvirale Erkrankungen mehr öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Gemeinsam fordern sie:

  • Anerkennung der biomedizinischen Grundlage beider Erkrankungen
  • Koordinierte Forschungsprogramme zu Pathomechanismen und Therapieoptionen
  • Aufbau spezialisierter Versorgungsstrukturen
  • Angemessene soziale Absicherung für Betroffene

Die durch COVID-19 neu entstandene Aufmerksamkeit für postinfektiöse Syndrome bietet eine historische Chance, auch für die langzeiterkrankten ME/CFS-Patient:innen endlich Verbesserungen zu erreichen.

Die Kraft der Gemeinschaft

Für Menschen mit ME/CFS, die oft isoliert und unsichtbar leiden, bietet die Liegedemo mehr als nur politischen Protest – sie schafft Gemeinschaft und Solidarität. Viele Betroffene berichten, dass die Teilnahme an einer solchen Aktion, trotz der körperlichen Anstrengung, emotional stärkend wirkt.

Das gemeinsame Sichtbarwerden, das Erleben von Verständnis und das Gefühl, nicht allein zu sein, sind für viele ME/CFS-Betroffene selten gewordene Erfahrungen. Die Initiative „Ich bin kein Einzelfall” greift diesen Gedanken in ihrem Namen auf und schafft einen Raum für Austausch und gegenseitige Unterstützung.

Die Liegedemo ist ein physischer Ausdruck dieser Community-Philosophie: Jede:r Einzelne mag zu schwach sein, um allein für Veränderungen zu kämpfen, aber gemeinsam – selbst im Liegen – können sie nicht mehr übersehen werden.

Weitere Informationen zu Mitgliedschaftsoptionen und Möglichkeiten, Teil dieser Gemeinschaft zu werden, findest du unter https://ichbinkeineinzelfall.ch/mitgliedschaftsoptionen/.

Persönliche Geschichten als Herzstück des Protests

ME/CFS: Persönlicher Erfahrungsbericht einer Betroffenen – solche Berichte sind bei jeder Liegedemo zentral. Die persönlichen Geschichten der Betroffenen, oft auf Plakaten oder in Broschüren festgehalten, vermitteln die Realität der Erkrankung eindrücklicher als jede Statistik.

Sie erzählen von talentierten Menschen, deren Leben durch ME/CFS komplett umgekrempelt wurde: von der Ärztin, die nun selbst 23 Stunden am Tag im Bett verbringt; vom Sportler, der jetzt Energie für eine Dusche pro Woche aufbringen kann; von der Studentin, die ihr Studium aufgeben musste und nun bei ihren Eltern lebt.

Diese persönlichen Zeugnisse durchbrechen die Anonymität der Erkrankung und geben ihr ein Gesicht. Sie zeigen, dass ME/CFS jeden treffen kann und dass hinter jedem Fall ein individuelles Schicksal steht.

Deine Geschichte zählt

Lebst du mit ME/CFS oder kennst jemanden, der betroffen ist? Deine Geschichte kann anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind, und gleichzeitig dazu beitragen, das öffentliche Bewusstsein für die Erkrankung zu stärken.

Auf der Seite „Persönliche Geschichten mit ME/CFS” findest du bewegende Berichte von Menschen, die mit dieser Erkrankung leben. Ihre Worte geben Einblick in die Realität mit ME/CFS und brechen das Schweigen über eine oft unsichtbare Krankheit.

Auch wenn du nicht an einer Liegedemo teilnehmen kannst – das Teilen deiner Geschichte ist eine Form des Aktivismus, die du vielleicht bewältigen kannst. Jede Stimme zählt im Kampf um Anerkennung und bessere Versorgung.

Mehr Informationen und Wege in die Zukunft

Die Liegedemo ist nur eine von vielen Aktionsformen, mit denen Betroffene und ihre Unterstützer:innen auf die Situation bei ME/CFS aufmerksam machen. Für einen umfassenden Überblick zu ME/CFS, seinen Symptomen und Auswirkungen, besuche unseren Beitrag #kurzerklärt: ME/CFS – Erschöpft nach der Infektion.

Leben mit ME/CFS bedeutet oft, mit großen Einschränkungen umgehen zu müssen. Dennoch gibt es Hoffnung. Die durch die COVID-19-Pandemie verstärkte Aufmerksamkeit für postvirale Erkrankungen könnte zu Fortschritten in Forschung und Versorgung führen.

Die Liegedemo ist ein kraftvolles Symbol dieser Hoffnung: Sie zeigt, dass selbst aus einer Position extremer körperlicher Schwäche heraus Veränderung möglich ist – wenn wir zusammenhalten und unsere Stimmen erheben, jede:r auf die Weise, die für sie oder ihn möglich ist.

Du bist nicht allein. Und gemeinsam, selbst im Liegen, können wir etwas bewegen.

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