
Quelle: ndr.de
Eine bahnbrechende Studie aus Kiel bringt neue Hoffnung für Menschen, die unter den langanhaltenden Folgen von COVID-19 leiden. Forschende des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein haben ein innovatives Vitamin-B3-Präparat entwickelt, das die Erholung von Corona-Erkrankungen deutlich beschleunigt. Die Erkenntnisse könnten auch für ME/CFS-Betroffene von großer Bedeutung sein, da beide Erkrankungen ähnliche Mechanismen im Darmmikrobiom betreffen.
- Durchbruch in der Behandlung postviraler Erschöpfung
- Die COVit-2-Studie: 900 Teilnehmende, eindeutige Ergebnisse
- Wie das innovative Präparat im Körper wirkt
- Besonders Risikopatienten profitieren – auch langfristig
- Das Darmmikrobiom als Schlüssel zur Genesung
- Bedeutung für ME/CFS und postvirale Erkrankungen
- Jahrelange Forschung führt zum Erfolg
- Verfügbarkeit und Ausblick
- Gemeinsam für Fortschritte in der Forschung
Durchbruch in der Behandlung postviraler Erschöpfung
Wer an Corona erkrankt, kämpft oft wochenlang mit reduzierter Leistungsfähigkeit und anhaltender Erschöpfung – Symptome, die ME/CFS-Betroffenen nur allzu bekannt sind. Forschende des Exzellenzclusters “Precision Medicine in Chronic Inflammation” (PMI) am UKSH in Kiel haben nun eine Tablette entwickelt, die genau diesen Erholungsprozess beschleunigen kann.
Das Präparat trägt den Namen CICR-NAM und enthält Nicotinamid, eine spezielle Form von Vitamin B3. Anders als herkömmliche Vitamin-Präparate wird das Nicotinamid jedoch erst im Dick- und Enddarm freigesetzt, wo es gezielt auf das Mikrobiom wirken kann – jene Gemeinschaft nützlicher Bakterien, die bei COVID-19 und auch bei ME/CFS oft aus dem Gleichgewicht gerät.
“Mit diesen Ergebnissen ist ein Durchbruch erzielt worden”, erklärt Professor Stefan Schreiber, Direktor der Klinik für Innere Medizin I am UKSH. “Eine vollständig auf molekularer Ernährung basierende Intervention kann tatsächlich den Verlauf einer schweren Infektionserkrankung wie COVID-19 beeinflussen.”
Die COVit-2-Studie: 900 Teilnehmende, eindeutige Ergebnisse
In der groß angelegten, placebokontrollierten COVit-2-Studie untersuchten die Forschenden 900 frisch an COVID-19 erkrankte Personen aus ganz Deutschland. Die Studie war doppelblind angelegt – das bedeutet, weder die Patientinnen und Patienten noch die Forschenden wussten, wer das echte Präparat und wer ein Placebo erhielt.
Die Hälfte der Teilnehmenden nahm vier Wochen lang täglich zwei Tabletten des neuen CICR-NAM-Präparats (je 500 mg), die andere Hälfte erhielt identisch aussehende Placebo-Tabletten. Die Patientinnen und Patienten wurden regelmäßig telefonisch zu ihrem Befinden befragt, viele sandten auch Stuhlproben zur Analyse des Darmmikrobioms ein.
Die Ergebnisse waren beeindruckend: Nach zwei Wochen hatten die Patientinnen und Patienten in der Nicotinamid-Gruppe deutlich häufiger ihre normale körperliche Leistungsfähigkeit zurückgewonnen als die Placebo-Gruppe. Besonders deutlich war dieser Effekt bei Risikopatienten – etwa Rauchern oder Menschen mit Vorerkrankungen der Lunge.
Wie das innovative Präparat im Körper wirkt
Das Besondere an CICR-NAM liegt in seiner speziellen Galenik – der Art, wie der Wirkstoff freigesetzt wird. Herkömmliche Vitamin-B3-Präparate werden bereits im Magen und Dünndarm aufgenommen, bevor sie das Darmmikrobiom erreichen können. Das Kieler Präparat hingegen ist so konzipiert, dass es erst im letzten Abschnitt des Dünndarms und im Dickdarm seine Wirkung entfaltet.
“Wir haben erfolgreich einen neuen Ansatz getestet, bei dem Vitamin B3 zunächst geschützt und erst im Darm freigesetzt wird”, erklärt Dr. Georg Wätzig, Koordinator für Translationale Forschung am IKMB, der die Entwicklung der CICR-NAM-Tabletten leitete.
Diese gezielte Freisetzung ermöglicht es dem Nicotinamid, direkt auf das Darmmikrobiom zu wirken, Vitaminmangel auszugleichen und wichtige Stoffwechselprozesse zu stärken. COVID-19 ist bekannt dafür, dass es das Darmmikrobiom negativ verändert – ein Problem, das auch bei anderen postviralen Erkrankungen wie ME/CFS beobachtet wird.
Besonders Risikopatienten profitieren – auch langfristig
Die Studienergebnisse zeigen, dass vor allem Patientinnen und Patienten mit Risikofaktoren für schwere COVID-19-Verläufe von der Behandlung profitierten. Diese Gruppe erlangte nicht nur schneller ihre körperliche Leistungsfähigkeit zurück, sondern zeigte auch eine bessere Fähigkeit, den normalen Alltag zu bewältigen.
Noch ermutigender sind die Langzeitbeobachtungen: Obwohl die Studie nicht primär auf Post-COVID-Symptome ausgerichtet war, beobachteten die Forschenden bei der Nachuntersuchung nach sechs Monaten einen vielversprechenden Trend. Patientinnen und Patienten mit höherem Post-COVID-Risiko, die auf die Nicotinamid-Behandlung angesprochen hatten, zeigten deutlich weniger Post-COVID-Symptome.
Diese Beobachtung ist besonders relevant für Menschen mit ME/CFS, da etwa die Hälfte der Long-COVID-Betroffenen nach sechs Monaten die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllt. Die Mechanismen, die bei beiden Erkrankungen eine Rolle spielen, scheinen sich zu überschneiden.
Das Darmmikrobiom als Schlüssel zur Genesung
Ein zentraler Aspekt der Studie war die detaillierte Untersuchung des Darmmikrobioms der Teilnehmenden. Das Mikrobiom – die Gesamtheit aller Mikroorganismen im Darm – spielt eine entscheidende Rolle für Verdauung, Immunsystem und allgemeine Gesundheit.
“Das Mikrobiom von COVID-19-Patienten zeigt etwa zwei Wochen nach Krankheitsbeginn immer noch eine Art Notfallstoffwechsel”, erklärt Professor Philip Rosenstiel, Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie am UKSH. “Der Körper versucht offensichtlich, bekannte Defizite an wichtigen Stoffwechselfaktoren durch die Hochregulierung anderer Prozesse zu kompensieren.”
In der Nicotinamid-Gruppe normalisierten sich diese Veränderungen deutlich schneller. “Diese Veränderungen haben wir in der Nicotinamid-Studiengruppe nicht beobachtet – wahrscheinlich weil der Mangel durch die Verabreichung von Nicotinamid kompensiert werden konnte”, so Rosenstiel weiter.
Dies ist besonders bedeutsam, da auch bei ME/CFS Störungen des Darmmikrobioms und des Stoffwechsels beobachtet werden. “Damit haben wir erstmals gezeigt, dass die Beeinflussung des Mikrobioms, in diesem Fall durch eine Nährstoffergänzung, einen positiven Effekt bei einer Virusinfektion haben kann”, betont Rosenstiel.
Bedeutung für ME/CFS und postvirale Erkrankungen
Die Erkenntnisse aus der COVit-2-Studie könnten weitreichende Bedeutung für die Behandlung von ME/CFS und anderen postviralen Erkrankungen haben. ME/CFS tritt häufig nach viralen Infektionen auf – sei es nach dem Epstein-Barr-Virus, Influenza oder eben COVID-19. Die zugrundeliegenden Mechanismen zeigen oft ähnliche Muster: gestörte Stoffwechselprozesse, Probleme mit dem Energiehaushalt der Zellen und Veränderungen im Darmmikrobiom.
Das Kieler Forschungsteam hatte bereits 2012 in einer in Nature veröffentlichten Studie gezeigt, dass ein Mangel an Nicotinamid und verwandten Substanzen im Darm die Entzündungsneigung erhöht und das Mikrobiom negativ beeinflusst. Diese Grundlagenforschung bildete die Basis für die Entwicklung von CICR-NAM.
Für ME/CFS-Betroffene, die oft jahrelang unter Symptomen wie extremer Erschöpfung, Post-Exertioneller Malaise und kognitiven Problemen leiden, könnte eine gezielte Beeinflussung des Darmmikrobioms neue Therapieansätze eröffnen. Während für ME/CFS bislang keine ursächlichen Behandlungen existieren, zeigt die Kieler Studie, dass relativ einfache, aber gezielt eingesetzte Nährstoffinterventionen durchaus messbare Effekte haben können.
Jahrelange Forschung führt zum Erfolg
Die Entwicklung von CICR-NAM ist das Ergebnis jahrelanger, systematischer Forschung innerhalb des Exzellenzclusters PMI. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Klinikern, Molekularbiologen und Mikrobiologen ermöglichte es, von der Grundlagenforschung bis zur klinischen Anwendung alle notwendigen Schritte zu durchlaufen.
“Die Wirksamkeit des speziell verkapselten Vitamins B3 bei einer so schweren Infektionskrankheit wie COVID-19 eröffnet völlig neue Einsichten und Behandlungswege der Entzündungshemmung”, betont Professor Joachim Thiery, Dekan der Medizinischen Fakultät am UKSH.
Die Studie wurde in der renommierten Fachzeitschrift Nature Metabolism veröffentlicht, was die wissenschaftliche Qualität und Bedeutung der Ergebnisse unterstreicht. Für die Forschungsgemeinschaft bedeutet dies einen wichtigen Meilenstein im Verständnis der Rolle des Darmmikrobioms bei Infektionskrankheiten und deren Folgen.
Verfügbarkeit und Ausblick
Trotz der vielversprechenden Ergebnisse ist das CICR-NAM-Präparat bislang noch nicht im Handel erhältlich. Bevor es auf den Markt kommen kann, muss zunächst ein Unternehmen gefunden werden, das die Produktion und Zulassung übernimmt. Dies ist ein typischer Prozess bei vielversprechenden Forschungsergebnissen aus der Universitätsmedizin.
Für ME/CFS-Betroffene und ihre Angehörigen bedeuten die Kieler Ergebnisse zunächst vor allem Hoffnung: Sie zeigen, dass auch bei komplexen postviralen Erkrankungen innovative Therapieansätze möglich sind. Die Fokussierung auf das Darmmikrobiom und den Stoffwechsel könnte neue Wege für die Erforschung und Behandlung von ME/CFS eröffnen.
Gemeinsam für Fortschritte in der Forschung
Die Erfolge der Kieler Forschungsgruppe zeigen, wie wichtig kontinuierliche, gut finanzierte Forschung für den medizinischen Fortschritt ist. Für Betroffene und ihre Familien ist es ermutigend zu sehen, dass innovative Ansätze entwickelt und erfolgreich getestet werden können.
Die Erkenntnisse unterstreichen auch die Bedeutung von Patientenorganisationen und Communities, die auf die Notwendigkeit weiterer Forschung aufmerksam machen und politischen Druck für bessere Versorgung aufbauen. Gemeinsam können wir dazu beitragen, dass vielversprechende Forschungsansätze weiterverfolgt und neue Behandlungsmöglichkeiten entwickelt werden.
Wenn du Teil einer Gemeinschaft werden möchtest, die sich für bessere Forschung und Versorgung bei ME/CFS und verwandten Erkrankungen einsetzt, findest du weitere Informationen zu unseren Mitgliedschaftsoptionen. Gemeinsam sind wir stärker und können mehr erreichen für alle Betroffenen postviraler Erkrankungen.