Meilenstein in der Long COVID-Versorgung: Kanada veröffentlicht erste umfassende nationale Richtlinien

Quelle: news-medical.net

Im März 2025 hat ein Expertenteam der McMaster Universität die ersten evidenzbasierten Richtlinien zur Diagnose, Prävention und Behandlung von Long COVID in Kanada herausgegeben. Was bedeutet dieser Durchbruch für die über eine Million betroffenen Kanadier – und welche Lehren können wir in der Schweiz daraus ziehen?

Erste umfassende nationale Leitlinien schaffen Klarheit

Lange haben Betroffene und Behandelnde auf klare Handlungsanweisungen gewartet – nun hat Kanada als eines der ersten Länder weltweit umfassende nationale Richtlinien für Long COVID veröffentlicht. Die als “Canadian Guidelines for Post COVID-19 Condition” (CAN-PCC) bezeichneten Leitlinien wurden von einem multidisziplinären Team der McMaster Universität entwickelt und bieten evidenzbasierte Empfehlungen für Diagnose, Management, Prävention und Behandlung von Post-COVID-19-Erkrankungen.

“Diese Richtlinien sollen umsetzbare Empfehlungen bereitstellen, die Gesundheitsfachleuten helfen, die bestmögliche Versorgung für Patienten mit Long COVID zu bieten. Sie stärken auch Patienten mit Informationen und Werkzeugen, die sie benötigen, um für ihre Gesundheit einzutreten und sicherzustellen, dass sie die notwendige Unterstützung und Behandlung erhalten”, erklärt Co-Leiter Robby Nieuwlaat, außerordentlicher Professor an der Abteilung für Gesundheitsforschungsmethoden, Evidenz und Auswirkungen der McMaster Universität.

Mit einer Finanzierung von 9 Millionen Dollar durch die Public Health Agency of Canada wurden die Richtlinien in Zusammenarbeit mit Long COVID-Betroffenen, Gesundheitsfachleuten, politischen Entscheidungsträgern und internationalen Experten entwickelt – ein Ansatz, der die Perspektiven aller Beteiligten einbezieht.

Rund 100 Empfehlungen in sechs Schlüsselkategorien

Die kanadischen Richtlinien umfassen etwa 100 Empfehlungen, die in sechs Hauptkategorien unterteilt sind:

  1. Prävention
  2. Tests, Identifikation und Diagnose
  3. Klinische und nicht-klinische Interventionen
  4. Neurologische und psychiatrische Themen
  5. Pädiatrische und jugendliche Themen
  6. Gesundheitssysteme und soziale Unterstützung

Zu den konkreten Empfehlungen gehören beispielsweise:

  • Einsatz von Raumlüftung und Luftfilterung zur Prävention von COVID-19 und dadurch auch Long COVID
  • Verwendung von Metformin zur Behandlung von Long COVID-Patienten
  • Einsatz von Versorgungsnavigatoren zur Unterstützung von Long COVID-Betroffenen

Interessant ist, dass Metformin genannt wird – ein Medikament, das ursprünglich für Diabetes entwickelt wurde und in den letzten Jahren in mehreren Studien vielversprechende Ergebnisse bei Long COVID gezeigt hat. Diese Empfehlung verdeutlicht, wie wichtig es ist, alle therapeutischen Optionen zu erforschen, auch wenn sie ursprünglich für andere Erkrankungen entwickelt wurden.

Eine besondere Herausforderung: Empfehlungen trotz unsicherer Evidenzlage

Eine der größten Herausforderungen bei der Entwicklung der Richtlinien war die derzeit verfügbare Forschungsevidenz, die größtenteils von geringer Sicherheit ist. Die Richtlinien heben daher auch wichtige Forschungsprioritäten hervor – ein ehrlicher Umgang mit den Grenzen des aktuellen Wissens, der gleichzeitig den Weg für zukünftige Studien weist.

“Wir wissen noch nicht alles über Long COVID, aber wir können nicht warten, bis wir alles wissen, um zu handeln”, kommentiert Theresa Tam, Kanadas oberste Gesundheitsbeamtin. “Die Erstellung der kanadischen Richtlinien für Post-COVID-19-Erkrankungen markiert einen bedeutenden Meilenstein in unseren kontinuierlichen Bemühungen, die langfristigen Auswirkungen von COVID-19 anzugehen.”

Breitere Zugänglichkeit durch begleitende Materialien

Um die praktische Anwendung der Richtlinien zu erleichtern, hat das CAN-PCC-Team zusätzliche Hilfsmittel entwickelt:

  • Zusammenfassungen in einfacher Sprache
  • Entscheidungshilfen und Ressourcenblätter
  • Infografiken zur Unterstützung informierter Entscheidungen

Die Empfehlungen sind auf Englisch und Französisch verfügbar, begleitende Materialien werden in verschiedenen weiteren Sprachen angeboten – ein wichtiger Schritt, um die Zugänglichkeit für alle Bevölkerungsgruppen sicherzustellen.

Die globale Dimension: Was können wir in der Schweiz lernen?

Während Kanada nun klare nationale Richtlinien hat, stellt sich die Frage, wie es in der Schweiz aussieht. Unsere Community von Long COVID- und ME/CFS-Betroffenen berichtet immer wieder von uneinheitlichen Behandlungsansätzen und mangelnder Koordination zwischen verschiedenen Gesundheitsdienstleistern.

Die kanadischen Richtlinien könnten als Vorbild dienen, wie ein systematischer, evidenzbasierter Ansatz unter Einbeziehung aller Stakeholder aussehen kann. Besonders hervorzuheben ist die Beteiligung von Betroffenen am Entwicklungsprozess – ein Aspekt, der in der Schweiz oft noch zu kurz kommt.

In der Schweiz fehlt es bislang an vergleichbar umfassenden nationalen Richtlinien. Während einzelne Spezialambulanzen eigene Protokolle entwickelt haben, gibt es keinen einheitlichen, landesweiten Ansatz zur Diagnose und Behandlung von Long COVID.

“Als ich die Nachricht von den kanadischen Richtlinien las, habe ich mich gefragt, wann wir in der Schweiz endlich nachziehen werden”, erzählt Sarah K., die seit ihrer COVID-Infektion im Jahr 2022 mit anhaltenden Symptomen kämpft. “Es wäre so hilfreich, wenn mein Hausarzt und die verschiedenen Fachärzte, die ich besuche, nach den gleichen Grundsätzen arbeiten würden.”

Die wichtigsten Fakten zu Long COVID

Die kanadischen Richtlinien bieten auch einen guten Überblick über den aktuellen Wissensstand zu Long COVID:

  • Definition: Gemäß der Weltgesundheitsorganisation ist Long COVID oder PCC (Post COVID-19 Condition) definiert als anhaltende oder neue Symptome, die mehr als 12 Wochen nach einer COVID-19-Infektion fortbestehen.
  • Verbreitung: Schätzungsweise sind mehr als eine Million Kanadier von Long COVID betroffen. In der Schweiz deutet eine kürzlich veröffentlichte Studie darauf hin, dass etwa 1 von 22 COVID-Betroffenen ME/CFS-ähnliche Symptome entwickelt.
  • Betroffene Gruppen: Long COVID kann jeden treffen, der mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert war – unabhängig davon, ob der ursprüngliche Verlauf schwer, mild oder sogar asymptomatisch war.
  • Symptomvielfalt: Mehr als 200 verschiedene Symptome wurden im Zusammenhang mit Long COVID berichtet. Zu den häufigsten gehören Fatigue, Atemnot und “Brain Fog”, der das Gedächtnis, die Konzentration und den Fokus beeinträchtigen kann.
  • Symptomverlauf: Die Symptome können anhaltend oder episodisch sein und sich je nach Umständen verschlimmern – ein Charakteristikum, das viele Betroffene in ihren persönlichen Geschichten beschreiben.

Zukunftsperspektiven: Forschung und Anpassung

“Mit fortgesetzter Unterstützung können wir unsere Empfehlungen aktualisieren, wenn neue Evidenz auftaucht, die Wissensmobilisierung erweitern und sicherstellen, dass Menschen in Kanada Zugang zur bestmöglichen Versorgung haben”, betont Nieuwlaat. Diese Aussage verdeutlicht einen wichtigen Aspekt: Die Richtlinien sind nicht in Stein gemeißelt, sondern ein lebendiges Dokument, das mit dem Fortschritt der Forschung wachsen wird.

Dieser Ansatz ist besonders wichtig in einem Feld, das sich so schnell entwickelt wie die Long COVID-Forschung. Seit Beginn der Pandemie haben Wissenschaftler weltweit intensiv an diesem neuen Krankheitsbild gearbeitet, und fast täglich werden neue Erkenntnisse gewonnen.

Die zunehmende internationale Zusammenarbeit, wie sie bei der Entwicklung der kanadischen Richtlinien praktiziert wurde, ist ein vielversprechender Trend. Ein multidisziplinäres Team von mehr als 150 kanadischen und internationalen Mitarbeitern, darunter Personen mit eigener Erfahrung, hat bei diesem Projekt zusammengearbeitet – ein Modell, das auch für andere Länder, einschließlich der Schweiz, beispielhaft sein könnte.

Was bedeutet das für Betroffene?

Für Menschen mit Long COVID bedeuten einheitliche, evidenzbasierte Richtlinien einen wichtigen Schritt zur Anerkennung und besseren Versorgung. Sie bieten eine fundierte Grundlage, auf die sich Betroffene in Gesprächen mit Gesundheitsdienstleistern berufen können.

Die Einbeziehung von Versorgungsnavigatoren, wie in den kanadischen Richtlinien empfohlen, könnte ein besonders wichtiger Aspekt sein. Diese könnten Betroffenen helfen, das oft unübersichtliche Gesundheitssystem zu navigieren und Zugang zu den richtigen Spezialisten und Unterstützungsangeboten zu finden.

Auch die Anerkennung von Long COVID als komplexes, multisystemisches Krankheitsbild, das spezialisierte Versorgung erfordert, ist ein wichtiger Schritt weg von der oft erlebten Bagatellisierung oder Psychologisierung der Symptome, wie sie viele Betroffene in ihren Berichten schildern.

Fazit: Ein wichtiger Schritt, aber noch ein langer Weg

Die Veröffentlichung der kanadischen Richtlinien markiert einen wichtigen Meilenstein in der globalen Antwort auf die Long COVID-Krise. Sie bietet ein Modell für evidenzbasierte, patientenzentrierte Versorgung, das auch für die Schweiz als Inspiration dienen könnte.

Gleichzeitig macht die Betonung der Forschungsprioritäten in den Richtlinien deutlich, dass noch viele Fragen offen sind. Die Entwicklung wirksamer Behandlungen, zuverlässiger Diagnosemethoden und präventiver Strategien bleibt eine dringende Aufgabe für die globale Forschungsgemeinschaft.

Für Betroffene in der Schweiz und weltweit ist die Botschaft klar: Fortschritte werden gemacht, auch wenn der Weg noch lang ist. Die Anerkennung und systematische Herangehensweise, die in den kanadischen Richtlinien zum Ausdruck kommt, gibt Hoffnung auf eine Zukunft, in der Long COVID nicht mehr ein unterversorgtes, unzureichend verstandenes Leiden ist, sondern eine anerkannte Erkrankung mit klaren Behandlungspfaden.

Wenn du von Long COVID oder ME/CFS betroffen bist, findest du in unserer Community Unterstützung und Austausch mit anderen Betroffenen. Denn eines ist sicher: Du bist kein Einzelfall, und gemeinsam können wir mehr erreichen als allein.


Quellen: McMaster University, März 2025; World Health Organization

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