ME/CFS: Im toten Winkel des Gesundheitssystems – Betroffene erzählen

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“Ich bin eigentlich ziemlich traurig, weil ich halt gerne auch mit ihnen eben Sachen erleben möchte, oder einfach draußen rumlaufen und sich unterhalten. Sachen erleben, die andere eben in meinem Alter erleben und die ich eben gerade nicht erleben kann.” – Kalea, 14 Jahre

Die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die das Leben der Betroffenen von Grund auf verändert. Doch fast noch schlimmer als die Krankheit selbst ist häufig die Erfahrung, nicht gesehen, nicht ernst genommen und allein gelassen zu werden. In diesem Beitrag teilen wir die Geschichten von Menschen, die mit ME/CFS leben und täglich gegen die doppelte Belastung kämpfen: gegen ihre Krankheit und gegen ein Gesundheitssystem, das sie im Stich lässt.

Kalea: Mit 14 Jahren ans Bett gefesselt

Knapp zwei Jahre konnte Kalea Lirk aus Dresden nicht mehr zur Schule gehen. Die 14-Jährige leidet an ME/CFS und ist so schwer erkrankt, dass sie das Bett nicht mehr verlassen kann.

“Das Schlimmste ist wirklich das schlapp sein, das keine Kraft haben. Und sonst habe ich auch noch Schmerzen überall, manchmal so immer mal verteilt am Körper oder auch mal alles auf einmal. Oder Konzentrationsstörungen, Händezittern.”

Vor ihrer Erkrankung war Kalea ein lebhaftes, unternehmungslustiges Mädchen. Sie kletterte gern, liebte es zu reiten und war besonders talentiert im Turnen. Sie zeichnete gern – heute fehlt ihr auch dafür die Kraft und Konzentration.

Kaleas Geschichte begann 2019 mit den ersten Symptomen. Immer wieder hatte die Schülerin Entzündungen in der Achillessehne, am Knie, wurde plötzlich körpersensibel und schnell entkräftet. Später kam heraus, dass sie sich bereits mit dem Epstein-Barr-Virus infiziert hatte. Dann kam Corona dazu.

“Die Ärzte haben damals schon gesagt: ‘Na, ist psychosomatisch. Der Wechsel steht an von Grundschule zum Gymnasium, und vielleicht ist der Leistungsdruck zu groß.’ Und dann kam die zweite Infektion wieder ein Jahr später, und das hat quasi den Körper total zum Zusammenbruch gebracht. Nach der zweiten Infektion gab es innerhalb von zwei Wochen einen totalen Zusammenfall, einen sogenannten Crash. Innerhalb von diesen zwei Wochen konnte sie gar nicht mehr laufen, weder stehen noch gehen, lag dann eigentlich nur noch im Zimmer mit Gehörschutz und Augenmaske.”

Ihre Mutter Elena nutzt die wenigen Momente, in denen ihre Tochter Berührungen erträgt, um sie zu waschen und für Massagen. Oft ist Kaleas Haut zu empfindlich. Einen Gehörschutz muss sie wegen ihrer Reizempfindlichkeit auch weiterhin auftragen, nachts eine Schlafmaske.

Besonders macht Kalea zu schaffen, dass sie ihre Freunde so selten sehen kann. Die Krankheit ist für die gesamte Familie sehr belastend. Auch ihr Bruder Ede leidet darunter:

“Dass ich kaum was mit meiner Schwester machen kann und auch gar nicht mit ihr rennen kann, Fahrrad fahren oder ein Brettspiel spielen.”

Laurenz: Ein Leben im Schatten von ME/CFS

Auch Laurenz Sofa aus Frankfurt am Main ist an ME/CFS erkrankt. Das Schlimmste sei, sagt er, dass er sich in seinem Körper gefangen fühle und die immer wieder heftigen Schmerzen. Seit drei Jahren findet das Leben des 22-Jährigen fast nur noch zu Hause statt, im Bett. Musik hören, lesen, fernsehen – wegen seiner Reizempfindlichkeit unerträglich für ihn.

“Ich habe nicht mehr die Freiheit, mein Leben zu leben so wie ich leben will, und vor allem nicht die Person zu sein, die ich sein will. Ich bin durch dieses CFS nur noch ein Bruchteil von mir, halt gezwungen, nur noch ein Bruchteil von mir zu sein.”

Laurenz trägt immer einen Gehörschutz, alles ist ihm zu laut. Als ME/CFS bei ihm ausbrach, war er gerade ausgezogen, hatte sein Studium begonnen, ging gerne feiern. Basketball war seine Leidenschaft. Doch nach der COVID-Impfung bekam er die ersten Symptome, und nach der Corona-Infektion den absoluten Crash.

Er hat es nachgerechnet: Rund 3000 Tabletten nimmt er pro Jahr, um wenigstens ein bisschen die Symptome zu lindern, unter denen er leidet.

“Das sind alles Mittel, die ich gar nicht nehmen müsste, wenn es ein Medikament gäbe. Aber ich habe keine Wahl, weil das sind die einzigen Dinge, die mich durch den Tag bringen, dass ich den Tag durchstehe mit dieser ganzen Erschöpfung und Schmerzen.”

Auf den Kosten für diese Medikamente bleiben Laurenz und seine Familie größtenteils sitzen. Laurenz musste wegen seiner schweren Erkrankung wieder zu seiner Mutter und Schwester ziehen, die sich rund um die Uhr um ihn kümmern.

Seine Mutter beschreibt die Situation:

“Plötzlich ging halt gar nichts mehr. An schlechten Tagen konnte er nicht mal das Bett verlassen, geschweige denn das Haus. Und es tat so weh, das zu sehen und einfach nichts tun zu können. Man fühlt sich so hilflos, weil es gibt nichts, was ich für ihn tun kann, damit es ihm besser geht.”

Die ersten zwei Jahre waren besonders hart. Auf der Suche nach einem Arzt, der ihnen helfen kann, der diese Krankheit ein Stück weit kennt und versteht, erlebten sie viele Rückschläge.

“Wir waren bei Psychiatern, die mir gesagt hätten, ich wäre eine Übermutter, weil ich mitkomme, und meinem Sohn gesagt haben, er soll sich nicht so anstellen, er soll rausgehen und Freunde treffen. Ich hatte auch Phasen, da hatte ich wirklich Angst, dass er Suizid begeht, weil er auch so verzweifelt war.”

Marina: Eine Sanitäterin, die selbst Hilfe braucht

Marina Reichert aus Filderstadt hat ebenfalls mit Behörden und Ärzten schlechte Erfahrungen gemacht. Die ersten Symptome traten auch bei ihr nach der COVID-Impfung auf und wurden durch die Infektion mit dem Coronavirus verstärkt. Die 31-Jährige kämpft gerade um eine Pflegestufe, damit sie die dringend benötigte Haushaltshilfe bezahlen kann.

“Ich kann jetzt kleinste Kleinigkeiten machen, aber danach bin ich am Ende. Und wenn ich es wirklich ganz stark habe, dann mit Lichtempfindlichkeit und sehr, sehr starken Muskel-Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, Herzrasen. Wo ich manchmal auch weinend dann im Bett liege und das Licht nicht ertrage, keine Gespräche ertrage, Telefonate nicht mehr führen kann mit meinen Eltern zum Beispiel. Das sind auch manchmal so Sachen, wo ich auch schon crashe.”

Marina ist Rettungssanitäterin. Sie hat ihre Arbeit geliebt. Großen Spaß hatte sie auch an ihrem Nebenjob als Kleindarstellerin in TV-Serien, für die sie regelmäßig an den Bodensee reisen musste. Allein das ist heute für sie undenkbar.

“Traurig, dass ich nicht mehr so sein kann oder nicht mehr so bin. Bilder von der Arbeit, wie ich noch in Action war und jetzt einfach nicht mehr am Leben so teilnehmen kann wie früher. Wütend teilweise auch, weil man einfach sich im Stich gelassen fühlt, weil ich nicht weiß, was ich machen kann oder dass einem geholfen wird. Ich liege dann teilweise hilflos da und wünsche mir einfach, dass das jetzt besser wird, dass die Schmerzen jetzt besser werden zum Beispiel. Teilweise bin ich auch Wochen in dem Crash drin oder Tage.”

Medikamente, die ME/CFS heilen, gibt es bis heute nicht. Und solche, die die Symptome lindern, übernimmt auch bei Marina die Krankenkasse meistens nicht.

“Meine Eltern helfen mir relativ viel, Gott sei Dank. Ich musste auch die Arztuntersuchungen selber bezahlen, komplett selber. Die Krankenkasse beteiligt sich nicht, niemand. Man ist da echt auf die Hilfe von der Familie halt auch abhängig, auf die Unterstützung.”

Die systemischen Probleme im Gesundheitswesen

Elena Lirk, Kaleas Mutter, fühlt sich im Stich gelassen und hat deshalb die Organisation “Nicht Genesen Kids e.V.” gegründet, um Aufmerksamkeit für diese kaum erforschte Krankheit zu schaffen. Mit Ärzten hat sie oft schlechte Erfahrungen gemacht:

“Letztendlich wurde immer wieder gesagt: ‘Na, vielleicht sollte ich mal an meiner Wahrnehmung arbeiten und das Kind nicht so unter Druck setzen oder es einfach mal ein bisschen mehr pushen, und dann würde es auch wieder gut gehen.’ Und ich weiß noch, ich bin dort in Tränen zusammengebrochen, habe gesagt: ‘Ja, aber jetzt lassen Sie mich wieder gehen, und ich habe trotzdem ein Kind, was nicht schlafen kann, was Schmerzen hat.’ Und dann wurde mir eigentlich da schon nahegelegt, vielleicht doch darüber nachzudenken, die Kleine stationär psychosomatisch einfach einzuweisen, weil es doch das Mittel der Mittel wäre, einfach mal losgelöst von der Mutter.”

Dr. Isabel Greber, die sich als Medizinerin wegen immer mehr Fällen auf diese schwere Krankheit spezialisiert hat, kritisiert, dass zu viele ihrer Kollegen kaum über ME/CFS Bescheid wüssten. Dass einige Ärzte eine rein psychische Ursache sehen, macht sie fassungslos:

“Einmal ist es eine totale Katastrophe, dass es nach so vielen Jahren immer noch so wenige Erkenntnisse gibt. Das Problem ist, dass diese Erkrankung so stiefmütterlich behandelt wurde in all den Jahren und leider auch immer noch wird. Viele Neurologen, in deren Fachgebiet die Krankheit ja eigentlich eingeordnet wird, schieben diese Erkrankten dann aber leider zu Psychotherapeuten ab.”

“Tatsächlich ist es eine sehr schwere Multisystemerkrankung, bei der der ganze Körper betroffen ist. Es können Blutgefäße betroffen sein, es ist das zentrale Nervensystem, das autonome Nervensystem betroffen, das Immunsystem ist betroffen, und die Erkrankung kann tatsächlich im schlimmsten Fall zum Tode führen.”

Die Vorwürfe gegen Eltern: Eine moderne “Hexenjagd”

Psychotherapeutin Bettina Grande betont, dass viele unabhängig von der Corona-Pandemie erkrankt seien, etwa durch andere Viren. Sie würden oft vergessen, auch Kinder. Zu wenige, auch der Medizinische Dienst, wüssten über ME/CFS Bescheid:

“Eigentlich muss eine Betroffene 23 Stunden im Bett im dunklen Zimmer liegen, und der MDK besucht sie, um eine Pflegebegutachtung zu machen, und sagt: ‘Glaube ich nicht, kann gar nicht sein, Sie sind jung’ und macht dann den Rolladen auf. Das ist unfassbar und macht mich immer wieder wütend. Und wenn dann solch ein Mensch mit Pflegegrad Null resultiert, ist das eine Häme.”

Ein großes Problem sei auch, dass viele Mütter unter Generalverdacht gerieten, was ebenfalls am fehlenden Wissen über ME/CFS liege, auch der Behörden:

“Im übelsten Fall passiert dann das, was nicht selten passiert, fast regelmäßig: In der Regel sind es die Mütter, die sich dann an mich wenden, und das Jugendamt unterstellt ihnen quasi, dass sie ihre Kinder mit Absicht schädigen, was man dann Münchhausen by Proxy nennt. Dann wird laienhaft eine wahre, man kann schon fast sagen, Hexenjagd auf diese Mütter veranstaltet.”

Auch Ärztin Isabelle Greber hat diese Erfahrung gemacht. Leidtragende seien vor allem die ohnehin schwer zubehandelnden Kinder:

“Kinder haben zum einen das Problem, dass es für sie noch nicht mal annähernd zugelassene Medikamente gibt, weil sie Kinder sind. Das heißt, wir haben da ein viel kleineres Spektrum, auf das wir zurückgreifen können als bei Erwachsenen. Und wenn dann die Mutter als die Schuldige herangezogen wird, dann haben die Kinder gar keine Chance mehr, eine adäquate Behandlung zu bekommen.”

“Ich habe es auch jetzt mehrfach erlebt, dass es zu Sorgerechtsentziehungen kam oder dass die Gesundheitsfürsorge den Eltern entzogen wurde, dass Kinder in Kliniken festgehalten wurden, nicht mehr nach Hause durften, dass Mütter in die Klinik kamen oder Eltern in die Klinik kamen und ihr Kind nicht mehr sehen durften, von einem auf den anderen Tag.”

Die Lage der Betroffenen: Ein stiller Skandal

Aufgrund der aktuellen Regelungen des Bundesinstituts für Arzneimittel werden symptomlindernd Medikamente nur bei bestätigter Long-COVID-Erkrankung übernommen, nicht aber bei ME/CFS, das durch andere Viren oder die COVID-Impfung ausgelöst wurde. Auf Nachfragen bei der Bundesregierung gibt es nur ausweichende Antworten.

Bettina Grande kommentiert:

“Man hat null verstanden, und man hat auch nicht verstanden, was man damit den Betroffenen antut. Das ist jetzt wieder mal und zum wiederholten Mal der Beleg: ‘Wir sehen euch nicht’, oder ich muss schon fast sagen: ‘Wir wollen euch nicht sehen. Ihr seid teuer, ihr habt keine Lobby.'”

Deswegen gehen Angehörige, Betroffene und Unterstützer immer wieder auf die Straße, wie hier in Frankfurt am Main. Mehr als eine halbe Million Betroffene, aber kaum Forschung und medizinische Versorgung – ein Trauergang und eine “Liegendemo” vor dem Römer.

Eine Teilnehmerin berichtet:

“Mein Sohn war über 18 Monate nicht in der Schule, liegt seit vier Wochen wieder im Crash, und wir suchen immer noch nach einer Anlaufstelle für Kinder. Es gibt in Hessen überhaupt keine Stelle, die in Bayern und in Berlin nehmen uns nicht, wir werden abgewiesen.”

Ein anderer Vater, dessen Sohn Paul durch eine Corona-Infektion ME/CFS entwickelte, erklärt:

“Es kennt niemand diese Erkrankung, und es gibt für ME/CFS zwei Kompetenzzentren. Es gibt für Multiple Sklerose 200, und es gibt mehr als 500.000 Betroffene. Also eine sehr große Aufklärungskampagne wäre immens wichtig.”

“Es ist ein stiller Skandal, weil er ja in den eigenen vier Wänden, in den abgeschlossenen und immer stillen Wänden stattfindet. Und von da ist es gut, dass wir heute hier ein Zeichen setzen und dass auch Freunde der Familie dabei sind. Es gibt keine Therapie, es gibt keine Medikamente. Es ist sehr hart, damit klarzukommen, dass einfach die Lobby fehlt.”

Hoffnung inmitten der Verzweiflung

Trotz aller Widrigkeiten haben die Betroffenen ihre Hoffnung nicht aufgegeben:

Marina Reichert hofft, dass es irgendwann doch Medikamente gibt, die ihr helfen können.

Laurenz Sofa wünscht sich nichts sehnlicher als sein altes Leben zurück.

Und die 14-jährige Kalea? Sie möchte irgendwann wieder lange Haare haben. Sie hat sie sich von ihrer Mutter abrasieren lassen, weil sie so schwach, schmerz- und reizempfindlich ist, dass die Pflege sehr erschwert ist. Es gibt Phasen, sagt ihre Mutter, da geht es Kalea zeitweise ein bisschen besser, wenn sie vor allem strikt auf ihre Belastungsgrenzen geachtet hat. Doch diese schwere neuroimmunologische Krankheit ist einfach unberechenbar.

Kalea will gerne wieder in die Schule gehen, ihre Freunde treffen und turnen, was sie so sehr geliebt hat.

Was du tun kannst

Wenn du selbst oder jemand, den du kennst, mit ME/CFS kämpft, hier sind einige Schritte, die helfen können:

  1. Informiere dich und andere: Je mehr Menschen über ME/CFS Bescheid wissen, desto besser kann Betroffenen geholfen werden.
  2. Suche nach spezialisierten Ärzten: Es gibt sie, auch wenn sie selten sind – Ärzte, die ME/CFS ernst nehmen und Betroffenen helfen können.
  3. Verbinde dich mit anderen Betroffenen: In Selbsthilfegruppen und Online-Communities findest du Verständnis, Unterstützung und wertvolle Tipps.
  4. Fordere Unterstützung ein: Auch wenn es schwer ist und mit Rückschlägen verbunden sein kann – kämpfe für deine Rechte auf angemessene medizinische Versorgung und soziale Unterstützung.
  5. Unterstütze Organisationen: Vereine wie “Nicht Genesen Kids e.V.” und andere Patientenorganisationen setzen sich für die Rechte von ME/CFS-Betroffenen ein und brauchen Unterstützung.
  6. Sei geduldig mit dir selbst: Lerne, deine Belastungsgrenzen zu respektieren und kleine Fortschritte zu würdigen.

Vor allem aber: Du bist nicht allein. Hunderttausende Menschen in Deutschland teilen dein Schicksal, und gemeinsam können wir daran arbeiten, die Situation für alle Betroffenen zu verbessern.


Hinweis: Dieser Artikel basiert auf einer Dokumentation des ZDF-Länderspiegels über ME/CFS. Die beschriebenen Erfahrungen sind real, Namen wurden nicht geändert. Wenn du selbst Hilfe benötigst oder dich mit anderen Betroffenen austauschen möchtest, bist du auf unserer Plattform ichbinkeineinzelfall.ch herzlich willkommen.

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