Invalidenversicherung: Verfahren mit ungleichen Waffen und unsere Forderungen

Quelle: Plädoyer

Das Sozialversicherungsrecht in der Schweiz ist für viele ein undurchdringliches Labyrinth, das Betroffene oft benachteiligt. Besonders im Bereich der Invalidenversicherung (IV) treten strukturelle Schwächen zutage, die nicht nur den Zugang zu fairen Verfahren erschweren, sondern auch die Qualität der Begutachtungen infrage stellen. Ein Artikel von Rainer Deecke beleuchtet die tiefgreifenden Probleme und skizziert mögliche Lösungen.


Die Macht der Gutachterstellen

Fehlende Qualität in Gutachten

Eine Untersuchung der Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) ergab, dass 90 % der überprüften Gutachten von einer großen Gutachterfirma erhebliche Qualitätsmängel aufwiesen. Diese Mängel führten sogar zur Beendigung der Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).

Quantität statt Qualität

Die Vergütungssysteme fördern Fehlanreize: Polydisziplinäre Gutachten, die mehrere medizinische Fachrichtungen abdecken, werden pauschal bezahlt. Dies schafft den Anreiz, möglichst viele Gutachten in kurzer Zeit zu erstellen, oft zulasten der Qualität. Die Folge: Oberflächliche Diagnosen und mangelnde Abklärungen, die jedoch von den Gerichten oft als Beweise akzeptiert werden.


Benachteiligung der Versicherten

Fehlende Unterstützung für Patienten

Die Betroffenen stehen häufig allein da, wenn sie gegen die Schlussfolgerungen der Gutachten vorgehen wollen. Es fehlt an finanzieller Unterstützung, um medizinische Stellungnahmen oder Gegengutachten einzuholen. Nur in Ausnahmefällen werden diese Kosten erstattet.

Fehlende Berücksichtigung behandelnder Ärzte

Die Gutachten beziehen die behandelnden Ärzte der Patienten oft nicht ein, obwohl diese über tiefgehendes Wissen zur Krankheitsgeschichte verfügen. Dies widerspricht den Leitlinien für medizinische Gutachten, die den Einbezug von Langzeiterfahrungen ausdrücklich empfehlen.


Rechtliche und gesellschaftliche Herausforderungen

Systemische Ungleichheit

Die IV-Stellen haben durch die engen Vorgaben des BSV wenig Spielraum, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Sparvorgaben und Zielvorgaben setzen die Stellen unter Druck, was dazu führt, dass Leistungen oft nur zögerlich gewährt werden.

Verfahrensfairness und Waffengleichheit

Artikel 29 der Bundesverfassung und Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention fordern ein faires Verfahren. Doch die Realität zeigt, dass Versicherte oft benachteiligt sind. Sie können ihre Argumente medizinisch nur schwer untermauern, während die Gutachten der Gegenseite hohen Beweiswert genießen.


Verbesserungsvorschläge

  1. Verbindliche Leitlinien für Gutachten
    Das Bundesgericht sollte die Einhaltung der Begutachtungsstandards strenger kontrollieren. Gutachten, die diese nicht beachten, sollten nicht als beweiskräftig gelten.
  2. Einbezug der behandelnden Ärzte
    Behandelnde Ärzte müssen verpflichtend in die Begutachtung einbezogen werden. Ihre Einschätzungen könnten helfen, die Arbeitsfähigkeit realistischer einzuschätzen.
  3. Recht auf Gegengutachten
    Versicherte sollten das Recht erhalten, einen unabhängigen Gutachter ihrer Wahl hinzuzuziehen, ähnlich wie in Deutschland. Dies könnte die Verfahrensfairness deutlich verbessern.
  4. Bessere Finanzierung
    Die Kosten für medizinische Stellungnahmen und Gegengutachten sollten von den Versicherungen übernommen werden, um Betroffenen eine faire Verteidigung zu ermöglichen.
  5. Erhöhung der Qualitätssicherung
    Die EKQMB sollte mehr Ressourcen erhalten, um Gutachten systematisch zu prüfen und Standards durchzusetzen.

Ein System im Wandel

Die Invalidenversicherung ist für viele Menschen in der Schweiz eine essenzielle Stütze, doch das System weist erhebliche Schwächen auf. Um die Verfahrensfairness zu gewährleisten, müssen strukturelle Änderungen vorgenommen werden, die die Qualität der Gutachten und die Rechte der Versicherten stärken. Nur durch eine konsequente Umsetzung von Reformen kann das Vertrauen in die Invalidenversicherung wiederhergestellt werden.

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