
“Es fühlt sich an, als wäre mein Körper mein Gefängnis.” Diese Worte stammen von Lisa, einer jungen Frau mit Long Covid, aber sie könnten von Tausenden von Menschen stammen, die mit chronischen Krankheiten leben. Dein Körper ist normalerweise dein Zuhause – ein Ort, der sich sicher und vertraut anfühlt, in dem du dich bewegen, lachen, denken und leben kannst, ohne darüber nachzudenken. Aber was, wenn dieses Zuhause plötzlich seine Türen verriegelt? Was, wenn du dich darin gefangen fühlst, unfähig, frei zu handeln oder auch nur einfach zu sein?
Für Menschen mit Long Covid, ME/CFS oder anderen chronischen Krankheiten ist das kein hypothetisches Szenario, sondern die tägliche Realität. Das Gefühl, im eigenen Körper gefangen zu sein, ist schwer zu beschreiben. Es ist eine Mischung aus Hilflosigkeit, Frustration und Traurigkeit – oft verbunden mit dem Verlust dessen, was früher selbstverständlich war.
Jeden Morgen stehen Betroffene vor schweren Entscheidungen: Wofür reicht die begrenzte Energie? Was muss heute liegen bleiben? Diese Abwägungen prägen einen Alltag, der von Außenstehenden oft nicht verstanden wird.
Wenn der Körper zum Verräter wird
Gefangen im eigenen Körper zu sein bedeutet, dass die Grenzen des Körpers nicht mehr mit dem übereinstimmen, was man tun oder sein möchte. Das kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, aber für Long Covid und ME/CFS-Betroffene sind bestimmte Erfahrungen besonders charakteristisch.
Physische Einschränkungen prägen den Alltag: Der Körper macht nicht mehr mit. Jede Bewegung ist anstrengend oder unmöglich, Schmerzen sind ein ständiger Begleiter, und selbst alltägliche Dinge wie Treppensteigen oder Zähneputzen werden zu unüberwindbaren Herausforderungen. ME/CFS, kurz erklärt, verdeutlicht die Komplexität dieser Multisystemerkrankung.
Der mentale Nebel ist besonders frustrierend: Der Geist fühlt sich wie in Watte gepackt an. Gedanken kommen nur langsam, man vergisst einfache Dinge oder kämpft ständig mit Konzentrationsproblemen. Für Menschen, die gewohnt waren, geistig leistungsfähig zu sein, ist das besonders belastend.
Unkontrollierbare Symptome bestimmen den Rhythmus: Plötzliche Schwindelanfälle, Atemnot, Herzrasen oder ein Gefühl der totalen Erschöpfung zwingen dazu, innezuhalten – ob man will oder nicht. Es ist, als ob man eine unsichtbare Fessel trägt, die einen daran hindert, das Leben frei zu gestalten.
Bei Long Covid und ME/CFS kommt die post-exertionelle Malaise hinzu – eine Verschlechterung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung. Das bedeutet: Selbst der Versuch, normal zu leben, kann zu einem tagelangen Crash führen. Das Verstehen und Bewältigen dieser Realität wird zu einer lebenswichtigen Fähigkeit.
Die drei Dimensionen der Gefangenschaft
Der Verlust der Autonomie
Eines der schlimmsten Gefühle ist der Verlust der Kontrolle. Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, zu entscheiden, was sie tun möchten: zur Arbeit gehen, Sport treiben, Zeit mit Freunden verbringen. Doch für jemanden, der im eigenen Körper gefangen ist, sind diese Entscheidungen nicht mehr frei. Der Körper diktiert, was geht – und oft ist die Antwort “gar nichts”.
Eine Einladung zu einer Feier klingt verlockend, aber der Körper weigert sich. Schon der Gedanke an die Anstrengung, sich fertigzumachen und hinzugehen, fühlt sich an wie ein Marathon. Lisa beschreibt es so: “Ich möchte dich sofort wieder hinlegen. Mir ist schwindelig, das Licht ist zu hell, alle Töne sind zu laut, alles ist zu viel.”
Diese ständigen Absagen und Rückzüge führen oft zu Schuldgefühlen. Man fühlt sich, als würde man andere enttäuschen, obwohl man selbst am meisten unter der Situation leidet. Wie man Ärzten und dem Umfeld die Symptome erklärt wird zu einer lebenswichtigen Fähigkeit, um überhaupt verstanden zu werden.
Das Gefühl des Verlusts
Mit einer chronischen Krankheit verliert man oft nicht nur körperliche Fähigkeiten, sondern auch Teile seiner Identität. Wenn du früher sportlich warst, beruflich aktiv oder ein Mensch, der gerne unterwegs war, dann fühlt es sich an, als ob dir ein Stück deiner Persönlichkeit genommen wurde.
Du warst jemand, der immer für Freunde da war. Jetzt bist du derjenige, der ständig absagen muss, und fühlst dich schuldig – obwohl du nichts dafür kannst. Lisa drückt es so aus: “Alles, was ich gerne machte, kann ich nicht mehr machen. Ich habe mir neue Hobbys gesucht, Häkeln und Stricken. Aber es ist überhaupt nicht das, was mich ausgemacht hat. Ich fühle mich nicht mehr wie ich selbst.”
Dieser Identitätsverlust ist besonders schwer zu verkraften, weil er schleichend passiert. Erst merkst du, dass du weniger unternehmen kannst, dann dass du öfter müde bist, und irgendwann erkennst du dich selbst nicht mehr wieder. Die Person im Spiegel sieht zwar gleich aus, aber fühlt sich völlig fremd an.
Die Isolation
Viele Betroffene ziehen sich zurück, weil sie das Gefühl haben, dass niemand sie versteht. Freunde und Familie meinen es gut, aber Sätze wie “Du musst dich einfach mehr anstrengen” oder “Das ist sicher nur eine Phase” verstärken das Gefühl, allein zu sein.
Du erklärst zum x-ten Mal, warum du nicht mitkommen kannst, und merkst, dass dein Gegenüber nur höflich nickt – aber nicht wirklich versteht, wie schwer die Situation für dich ist. Diese Art des Nicht-verstanden-Werdens führt oft zu sozialer Isolation, die die psychische Belastung noch verstärkt.
Die Ironie ist bitter: Gerade wenn man am meisten Unterstützung bräuchte, ist man am wenigsten in der Lage, diese zu erhalten oder zu kommunizieren. Persönliche Geschichten anderer Betroffener zeigen, dass man mit diesen Erfahrungen nicht allein ist.
Warum fühlt sich der Körper wie ein Käfig an?
Der Körper wird unberechenbar
Einer der Hauptgründe ist, dass der eigene Körper nicht mehr wie ein Verbündeter wirkt. Stattdessen fühlt es sich an, als ob er gegen einen arbeitet. Schmerzen kommen und gehen ohne ersichtlichen Grund. Manchmal ist selbst Liegen unerträglich. Der Energieverlust ist konstant: Der Körper scheint keinen Akku mehr zu haben. Egal, wie lange man sich ausruht, die Erschöpfung bleibt.
Symptome ohne klare Erklärung verstärken das Gefühl der Hilflosigkeit: Ob Schwindel, Atemnot oder Herzrasen – oft gibt es keine eindeutige Ursache, und das medizinische System tut sich schwer mit der Diagnose und Behandlung. Die harte Realität zwischen medizinischer Wahrheit und bürokratischen Hürden zeigt, wie schwierig es ist, Anerkennung für unsichtbare Krankheiten zu bekommen.
Der Kontrast zwischen “wollen” und “können”
Die Diskrepanz zwischen dem, was man sich vorstellt, und dem, was der Körper erlaubt, ist schwer zu ertragen. Lisa beschreibt es perfekt: “Mein Kopf will alles. Ich habe so viel Antrieb und Lust auf alles, was ich früher gemacht habe – jetzt natürlich noch viel mehr – und ich vermisse alles. Aber mein Körper hält mich immer davon ab. Ich kann nicht entscheiden, sondern muss einfach… Mein Körper trifft die Entscheidung für mich.”
Diese ständige Diskrepanz zwischen Wollen und Können führt zu einer chronischen Frustration, die zermürbend ist. Man sieht andere Menschen selbstverständlich Dinge tun, die für einen selbst unerreichbar geworden sind. Selbst ein Spaziergang um den Block kann zu einer unüberwindbaren Herausforderung werden.
Das Fehlen einer Perspektive
Das Gefühl, gefangen zu sein, wird oft dadurch verstärkt, dass es keine klare Lösung gibt. Bei Long Covid und ME/CFS ist die Prognose oft ungewiss. Es gibt keine Garantie für Besserung, keine klaren Behandlungsrichtlinien, keine Heilung in Sicht. Die Unsicherheit darüber, ob es jemals besser wird, macht es schwer, Hoffnung zu finden.
Wenn die IV versagt und das System Betroffene im Stich lässt, wird die Situation noch hoffnungsloser. Nicht nur der Körper funktioniert nicht mehr, auch die gesellschaftlichen Sicherungsnetze versagen.
Die psychische Belastung: Gefangen im Kopf und Körper
Die körperliche Einschränkung ist nur ein Teil des Problems. Mindestens genauso belastend sind die psychischen Folgen, die sich in verschiedenen Formen manifestieren können.
Selbstzweifel und Schuldgefühle sind allgegenwärtig: “Bin ich schuld?” Viele Betroffene fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben, ob sie zu viel gearbeitet, sich falsch ernährt oder sich nicht genug um ihre Gesundheit gekümmert haben. “Ich enttäusche andere.” Freunde und Familie müssen oft zurückstecken, was bei Betroffenen Schuldgefühle auslöst – obwohl sie nichts dafür können.
Angst und Panik verstärken die Belastung: “Was, wenn es nie besser wird?” Diese Frage nagt ständig an einem. Die Ungewissheit über die Zukunft kann zu Angststörungen führen. “Ich verliere alles.” Ob Job, soziale Kontakte oder Hobbys – die Angst, alles zu verlieren, was einem wichtig ist, ist allgegenwärtig.
Depression und Hoffnungslosigkeit sind häufige Begleiter: Wenn der Körper sich wie ein Gefängnis anfühlt, kann das Gefühl der Hoffnungslosigkeit überwältigend sein. Viele Betroffene kämpfen mit Depressionen, weil sie das Leben, das sie sich vorgestellt haben, nicht mehr führen können.
Es ist wichtig zu verstehen, dass diese psychischen Reaktionen normal und verständlich sind. Sie sind nicht Zeichen von Schwäche, sondern natürliche Reaktionen auf eine extrem belastende Situation. Die Trennung zwischen körperlichen und psychischen Symptomen ist oft künstlich – beides beeinflusst sich gegenseitig und sollte ganzheitlich betrachtet werden.
Wege aus der Gefangenschaft
Es gibt keine Zauberformel, die alles besser macht. Aber es gibt Wege, die helfen können, besser mit der Situation umzugehen und trotz aller Einschränkungen ein erfüllteres Leben zu führen.
Akzeptanz statt Widerstand ist ein schwieriger, aber wichtiger Schritt: Es klingt paradox, aber je mehr du gegen deinen Körper kämpfst, desto stärker fühlt sich die Gefangenschaft an. Akzeptanz bedeutet nicht, aufzugeben – sondern zu erkennen, dass du mit deinem Körper arbeiten musst, nicht gegen ihn. Das heißt auch, die Grenzen zu respektieren und das Pacing zu lernen – die Kunst, die verfügbare Energie sinnvoll einzuteilen.
Kleine Erfolge zu feiern ist essenziell: Anstatt dich auf das zu konzentrieren, was du nicht kannst, richte deinen Blick auf die kleinen Dinge, die dir gelingen. Jeder Tag, an dem du eine kleine Hürde überwindest, ist ein Erfolg. Vielleicht ist es nur, dass du heute ein Gespräch führen konntest, ohne völlig erschöpft zu sein, oder dass du ein paar Minuten draußen verbringen konntest.
Unterstützung zu suchen ist überlebenswichtig: Ob durch Selbsthilfegruppen, Therapeuten oder Freunde – der Austausch mit anderen kann helfen, das Gefühl der Isolation zu durchbrechen. Bei ichbinkeineinzelfall.ch haben wir selbst erlebt, wie wichtig es ist, Menschen zu finden, die verstehen, was man durchmacht. Unsere Mitgliedschaftsoptionen bieten eine Plattform für diesen wichtigen Austausch.
Kreative Wege zu finden hilft beim Verarbeiten: Viele Betroffene entdecken neue Wege, sich auszudrücken: Schreiben, Malen, Fotografieren oder andere kreative Tätigkeiten können helfen, die Gefühle zu verarbeiten. Lisa hat Häkeln und Stricken für sich entdeckt – auch wenn es nicht das ist, was sie früher definiert hat, so gibt es ihr doch eine Möglichkeit, aktiv zu sein.
Geduld mit sich selbst zu haben ist entscheidend: Es ist okay, nicht immer stark zu sein. Es ist okay, schlechte Tage zu haben. Wichtig ist, dir selbst Raum zu geben, zu fühlen, was du fühlst – und trotzdem weiterzumachen. Die Heilung, wenn sie denn kommt, ist oft ein langsamer Prozess mit Rückschlägen.
Ein Funken Hoffnung in der Dunkelheit
Bei ichbinkeineinzelfall.ch kennen wir das Gefühl, im eigenen Körper gefangen zu sein, nicht nur aus den Geschichten anderer – wir leben es selbst. Auch wir sind durch Long Covid und ME/CFS aus einem aktiven Leben gerissen worden und warten seit Jahren auf Unterstützung von der IV. Genau aus dieser existenziellen Not heraus ist unsere Plattform entstanden. Aus der Erfahrung, dass man als Betroffener allein gegen Windmühlen kämpft, dass niemand versteht, was man durchmacht, und dass das System einen im Stich lässt, wenn man es am meisten braucht.
Gefangen im eigenen Körper zu sein, ist eine Erfahrung, die schwer in Worte zu fassen ist. Doch trotz aller Herausforderungen gibt es Momente, in denen du spürst, dass du mehr bist als deine Krankheit, deine Einschränkungen oder dein Körper. Diese Momente können klein sein – ein Lächeln, ein Gespräch, ein Sonnenstrahl auf deinem Gesicht, ein Tag ohne starke Symptome. Aber sie erinnern dich daran, dass es auch in der größten Dunkelheit Licht geben kann.
Lisa hatte nach Monaten der Isolation zum ersten Mal wieder ein kleines Erfolgserlebnis: Sie konnte ein paar Stunden in einem Restaurant verbringen, ohne dass sich ihr Zustand verschlechterte. Für Außenstehende mag das unbedeutend klingen, aber für sie war es ein riesiger Schritt zurück ins Leben. Ihre Geschichte und die von Andrea zeigen eindrücklich, was es bedeutet, wenn der eigene Körper zum Gefängnis wird.
Auch Andrea, der Triathlet mit den zyklischen Fieberschüben, fand trotz seiner schweren Erkrankung Momente der Hoffnung. Sein Halbmarathon-Erfolg zeigte ihm, dass trotz allem noch Möglichkeiten existieren. “Es zeigt mir, dass ich Chancen habe”, sagte er nach dem Rennen. Diese persönlichen Erfolge sind wichtig – sie zeigen, dass auch im Käfig der Krankheit noch Bewegung möglich ist.
Die Schicksale anderer Betroffener wie Nicole, Miriam und Brigitte verdeutlichen zusätzlich, wie vielfältig die Erfahrungen mit Long Covid sind, aber wie ähnlich das Gefühl der Gefangenschaft empfunden wird. Jede Geschichte ist einzigartig, doch die Grundthemen – der Verlust der Autonomie, die Isolation, der Kampf um Anerkennung – wiederholen sich immer wieder.
Du bist nicht allein
Wenn du dich gerade gefangen fühlst, sei dir bewusst: Du bist nicht allein. Es gibt Menschen, die deinen Kampf verstehen und die mit dir daran glauben, dass es besser werden kann – und dass du mehr bist als die Grenzen deines Körpers. Die Gemeinschaft der Betroffenen ist stark, auch wenn wir oft physisch schwach sind.
Deine Geschichte ist wichtig. Deine Erfahrungen sind real und berechtigt. Auch wenn die Welt um dich herum manchmal so tut, als wären deine Symptome nicht real oder “nur psychisch”, wissen wir es besser. Wir sehen dich, wir verstehen dich, und wir kämpfen mit dir.
Es mag Tage geben, an denen die Gefangenschaft überwältigend erscheint. Aber vergiss nicht: Selbst in einem Käfig kann man immer noch atmen, denken, fühlen und hoffen. Und manchmal, ganz manchmal, öffnet sich eine Tür – wenn auch nur einen Spalt. Diese Momente der Freiheit, so klein sie auch sein mögen, erinnern uns daran, dass wir mehr sind als unsere Krankheit.
In der Gemeinschaft der Betroffenen findest du Menschen, die wissen, wie es ist, gefangen zu sein, aber auch, wie es ist, kleine Siege zu feiern. Gemeinsam sind wir stärker als allein, auch wenn wir physisch oft getrennt sind. Du bist kein Einzelfall – und du bist nicht allein.
Dieser Artikel entstand aus der persönlichen Betroffenheit der Autorinnen und Autoren von ichbinkeineinzelfall.ch. Die medizinischen Informationen ersetzen nicht die professionelle Beratung durch einen Arzt. Bei anhaltenden gesundheitlichen Problemen wenden Sie sich bitte an einen Mediziner.