
ADHS ist eine komplexe neuronale Entwicklungsstörung, die vielfältige Ausprägungen hat und Menschen in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich betreffen kann. Der folgende Bericht gibt einen umfassenden Überblick über dieses Störungsbild, seine Formen, Auswirkungen und wie es sich je nach Geschlecht und Alter manifestieren kann.
Was ist ADHS?
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und bezeichnet eine Verhaltensstörung, die bei Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen auftreten kann. Sie ist durch Auffälligkeiten in drei Kernbereichen gekennzeichnet: starke Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, starke Impulsivität und ausgeprägte körperliche Unruhe (Hyperaktivität)[1]. Während ADHS früher primär als reines Verhaltensproblem betrachtet wurde, wird es heute zunehmend als komplexe Entwicklungsverzögerung des Selbstmanagement-Systems im Gehirn verstanden[8].
Die Störung zeigt einen fließenden Übergang zur Normalität, wobei für eine Diagnose die Auffälligkeiten sehr stark ausgeprägt und in den meisten Situationen beständig seit der Kindheit vorhanden sein müssen. Wichtig ist zu beachten, dass die Symptome allein noch keinen Krankheitswert haben – erst wenn diese die Lebensführung stark beeinträchtigen oder zu erkennbarem Leiden führen, ist eine ADHS-Diagnose gerechtfertigt[8].
Die weltweite Häufigkeit von ADHS unter Kindern und Jugendlichen wird mit etwa 5,3% beziffert, wobei in Deutschland zwischen 2% und 6% aller Kinder und Jugendlichen betroffen sind[6][10].
ADHS-Formen und Typen
ADHS kann in verschiedene Typen oder Ausprägungsformen unterteilt werden. Es existieren verschiedene Klassifikationssysteme:
Klassische Einteilung nach Symptomausprägung
- Unaufmerksamer Typ: Vorwiegend durch Aufmerksamkeitsstörungen gekennzeichnet, ohne ausgeprägte Hyperaktivität[11]
- Hyperaktiv-impulsiver Typ: Hier stehen Hyperaktivität und Impulsivität im Vordergrund[11]
- Kombinierter Typ: Zeigt Symptome aus beiden Bereichen[11]
Alternative Typeneinteilung nach Persönlichkeitsmerkmalen
- Extrovertierter, hyperaktiver ADHS-Typ: Dieser Typ wirkt verbal und körperlich ständig in Bewegung. Er ist impulsiv, offen und lädt sich häufig zu viel Arbeit auf. Menschen dieses Typs laufen vor Publikum zu Hochformen auf, sind humorvoll, ausdrucksstark und kontaktfreudig. Sie können sich gut im Verkauf oder Außendienst profilieren und finden sich häufig in der Kultur-, Unterhaltungs- und Medienszene[2].
- Introvertierter, hypoaktiver ADHS-Typ: Dieser Typ ist eher still, in sich zurückgezogen und arbeitet gerne hinter den Kulissen. Die innere Rastlosigkeit und Impulsivität fällt dem Umfeld nicht sofort auf. Introvertierte ADHS-Betroffene sind oft hochsensibel, fürsorglich und mitfühlend und finden häufig in helfenden Berufen oder kreativen Tätigkeiten Erfüllung[2].
- Strukturierter ADHS-Typ: Dieser Typ wirkt oft bestimmend und extrem fokussiert. Um richtig zu funktionieren, braucht er starke Strukturen. Wird etwas in seinem System verändert, gerät er unter Druck und reagiert impulsiv, chaotisch und schuldzuweisend[2].
Es ist wichtig zu erwähnen, dass manche Fachleute den Begriff ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) verwenden, um eine Unterform der ADHS zu bezeichnen, die vor allem durch eine ausgeprägte Unaufmerksamkeit und weniger durch Hyperaktivität oder Impulsivität gekennzeichnet ist[1].
Auswirkungen von ADHS
ADHS kann weitreichende Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche haben:
Schulische und berufliche Auswirkungen
Die Leistungen in Schule und Ausbildung leiden in der Regel unter einer ADHS. Manchmal treten die Schwierigkeiten erst nach der Grundschulzeit, in der Realschule, im Gymnasium oder an der Universität auf[3]. Leider landen manche dieser Kinder trotz normaler Intelligenz auf der Förderschule für Lernbehinderte und ergreifen später ungelernte Berufe[3].
Soziale Auswirkungen
Die Konfliktbereitschaft, das impulsive Auftreten und die mangelnde Anpassungsfähigkeit belasten oft das Verhältnis zu anderen Kindern. Häufig haben Kinder mit ADHS einen schlechten Kontakt zu Altersgenossen und spielen lieber mit wesentlich älteren oder jüngeren Kindern. Sie weichen auf die Rolle des Klassenclowns aus oder werden zum Sündenbock der anderen[3].
Familiäre Auswirkungen
Das Zusammenleben in der Familie wird in der Regel stark beeinträchtigt. Das Verhältnis der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu ihren Geschwistern ist oft durch Konflikte belastet. Die Scheidungsrate von Eltern mit ADHS-betroffenen Kindern ist deutlich erhöht[3].
Psychische Folgen
Die Ablehnung durch Mitmenschen kann zu psychischen Folgen in Form von mangelndem Selbstwertgefühl, sozialem Rückzug, Depressionen, Drogenproblemen bis hin zu erhöhter Selbstmordgefahr führen[3]. In Studien zeigt sich, dass ADHS-Patienten im Alter weniger Selbstwertgefühl, mehr soziale Probleme, mehr Ängste und mehr Depressionen haben[5].
Erhöhte Unfall- und Risikogefahr
ADHS-Patienten weisen eine erhöhte Unfallgefahr auf, weil sie aufgrund ihrer gestörten Informationsverarbeitung Handlungen nicht planen und Gefahren nicht richtig einschätzen können[3].
Langzeitfolgen im Erwachsenenalter
Eine deutsche Verlaufsstudie zeigte, dass über 60 Prozent der jungen Erwachsenen mit ADHS noch bei ihren Eltern lebten, während es bei Menschen ohne ADHS nur halb so viele waren. Ein Viertel war auch im Alter von 25 bis 33 Jahren nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen[13].
Geschlechtsspezifische Unterschiede bei ADHS
ADHS wird bei Kindern deutlich häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert. In der ärztlichen Praxis wird ADHS 5- bis 9-mal häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert, während bei epidemiologischen Studien nur 3-mal so viel Jungen wie Mädchen diagnostiziert werden[4]. Interessanterweise ist bei Erwachsenen das ADHS-Verhältnis dann in allen Umgebungen 1:1 ausgeglichen[4].
Eine große Untersuchung fand bei Kindern mit ADHS ein Geschlechterverhältnis von 1,6:1 (Jungen zu Mädchen). Während bei Jungen Impulsivität und bei Mädchen Unaufmerksamkeit häufiger auftrat, war Hyperaktivität gleich häufig vertreten[4].
Es wird heute allerdings infrage gestellt, ob die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einzelner Symptome geschlechtsspezifisch ist. Eine Untersuchung fand, dass Jungen und Mädchen sich in der Symptomatik von Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität nicht unterscheiden[4]. Auch bei Erwachsenen scheint die Verteilung der Symptome geschlechtsunabhängig zu sein[4].
Altersabhängige Veränderungen von ADHS
ADHS beginnt im Kindes- und Jugendalter und kann auch im Erwachsenenalter fortbestehen[6][9]. Die Symptome und ihre Ausprägung verändern sich jedoch über die Lebensspanne:
Im Säuglings- und Kleinkindalter
Bei vielen Betroffenen wird ADHS bereits im Kleinkindalter durch ein sehr hohes Aktivitätsniveau deutlich. Bei einigen Kindern treten sogenannte Regulationsstörungen auf – sie haben Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme und der Verdauung sowie Schlafprobleme[7][12].
Im Kindergartenalter
Vom Kleinkind- zum Kindergartenalter verstärkt sich die Symptomatik bei vielen Kindern. Deutliche Hyperaktivität und extreme Umtriebigkeit sind im Kindergartenalter besonders stark ausgeprägt. Den Betroffenen gelingt es nur schwer, zu einem ruhigen und ausdauernden Spiel zu kommen[7].
Im Schulalter
Mit dem Eintritt in die Grundschule kommt es bei vielen betroffenen Kindern zu einer erheblichen Zunahme der Schwierigkeiten. Die Symptomatik wird zu diesem Zeitpunkt besonders deutlich, da die Kinder plötzlich mit Anforderungen an Ruhe, Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit konfrontiert werden, die sie überfordern[7].
Im Jugendalter
Im Jugendalter kann ADHS mit erhöhtem Risikoverhalten und Suchtbereitschaft einhergehen[12].
Im Erwachsenenalter
Die motorische Unruhe verschwindet meist beim Übergang ins Erwachsenenalter. Hochfrequentes Fußwippen oder häufige Fingerbewegungen können persistieren. Die Patienten empfinden zudem oft eine unangenehme innere Unruhe[13]. Die Unaufmerksamkeit bleibt dagegen bestehen[13].
Schätzungsweise 15% der Kinder und Jugendlichen mit ADHS erfüllen die diagnostischen Kriterien auch noch vollständig, wenn sie erwachsen sind. Allerdings äußert sich eine ADHS bei Erwachsenen häufig anders. Die Hyperaktivität geht oft zurück, im Vordergrund stehen dann die Unaufmerksamkeit, innere Unruhe und Probleme, die eigenen Gefühle zu regulieren[9].
Im höheren Lebensalter
ADHS-Betroffene schaffen es bei einer guten Begabung und glücklichen Lebensumständen oft bis zum Ende des mittleren Lebensalters, ihre ADHS-Symptome mit viel Energie und Selbstkontrolle im Griff zu behalten. Mit zunehmendem Alter und schwindenden Kräften zeigt sich dann aber zunehmend eine Erschöpfungssymptomatik, Vergesslichkeit und häufig auch depressive Symptome[5].
Besonders beim Eintritt ins Rentenalter kann dies noch deutlicher werden. Jetzt fallen berufliche Strukturen, Zielvorgaben und Arbeitsvorgaben weg, und umso deutlicher wird das desorganisierte Handeln. Auch die soziale Anerkennung, über die sich viele ADHS-Betroffene definieren, wird durch die Berentung geringer[5]. Der Wegfall von Strukturen im Alter kann für ADHS-Betroffene dramatisch sein[14].
Also was heisst das nun?
ADHS ist eine komplexe neuronale Entwicklungsstörung, die sich in verschiedenen Formen manifestieren kann und deren Symptome sich je nach Alter und Lebensphase verändern. Während bei Kindern Geschlechtsunterschiede in der Diagnose auffallen, gleichen sich diese im Erwachsenenalter an. Die Auswirkungen von ADHS können weitreichend sein und verschiedene Lebensbereiche wie Schule, Beruf, soziale Beziehungen und Familie beeinträchtigen.
Es ist wichtig zu betonen, dass viele Betroffene aufgrund ihrer ADHS auch besondere Ressourcen haben. So kann sich beispielsweise Impulsivität in Spontaneität, Flexibilität und Kreativität ausdrücken. Eine ausschließlich defizitorientierte Sichtweise wird den Betroffenen nicht gerecht[1]. Mit einer frühzeitigen Diagnose und angemessener Unterstützung können Menschen mit ADHS erfolgreich mit ihrer Besonderheit leben und ihre Stärken nutzen.
Quellen
[1] ADHS: Was ist das?
[2] Typen von ADHS – Info- und Beratungsstelle für Erwachsene mit ADHS
[3] Auswirkungen von ADHS auf Familienleben, Schule und Ausbildung
[4] Geschlechtsunterschiede bei ADHS – ADxS.org
[5] ADHS im Alter – ADHS-München
[6] Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) | BMG
[7] Verlauf von ADHS im Kindes-/Jugend- und jungen Erwachsenenalter
[8] Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – Wikipedia
[9] ADHS bei Erwachsenen | Gesundheitsinformation.de
[10] ADHS
[11] Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – MSD Manuals
[12] Symptomentwicklung bei Kindern nach Alter und Häufigkeit
[13] ADHS bleibt, die Symptome ändern sich – Ärzte Zeitung
[14] ADHS im Alter: Von Fehldiagnosen, Stigmen und fehlenden Medis
[15] ADHS – Bundesamt für Gesundheit BAG
[16] Was ist ADHS? Definition & Hintergründe
[17] Formen von ADHS: Subtypen und Unterschiede näher erklärt
[18] ADHS-Symptome bei Erwachsenen: die Störung wächst mit.
[19] ADHS Geschlechtsunterschiede: Mädchen leiden anders – Watson
[20] ADHS im Erwachsenenalter
[21] Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität (ADHD) – MSD Manuals
[22] Folgen einer ADHS bei Erwachsenen
[23] ADHS bei Frauen – praxis-neuy.de
[24] ADHS bei Kindern: Symptome, Ursachen und Behandlung | NDR.de
[25] ADHS-Symptome – ADHS ist nicht gleich ADHS!
[26] [PDF] Geschlechtsunterschiede bei ADHS im Erwachsenenalter
[27] ADHS – Bundesamt für Gesundheit BAG
[28] ADHS: Was ist das?
[29] ADHS im Vorschulalter