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Fast fünf Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown in Deutschland wird die Aufarbeitung der Pandemie und ihrer Maßnahmen immer dringlicher. In einer umfassenden Diskussion bei “ZDF heute live” trafen die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Professorin Alena Büx, und der Virologe Professor Klaus Stöhr aufeinander, um Bilanz zu ziehen. Die Debatte offenbart, wie unterschiedlich die Bewertung der Pandemie-Maßnahmen ausfällt – selbst unter Experten. Für uns bei Ich bin kein Einzelfall ist diese Aufarbeitung besonders wichtig, da viele unserer Community-Mitglieder bis heute mit den gesundheitlichen und sozialen Folgen der Pandemie kämpfen.
- Die fehlende Datengrundlage: Ein fundamentales Problem
- Die vergessene Generation: Kinder und Jugendliche
- Die Isolierung der Alten: Eine ethische Grenzüberschreitung?
- Impfpflicht für medizinisches Personal: Eine gespaltene Debatte
- Medienberichterstattung: Zu einseitig und alarmistisch?
- Was können wir für die Zukunft lernen?
- Was bedeutet das für unsere Community?
- Eine persönliche Schlussfolgerung
Die fehlende Datengrundlage: Ein fundamentales Problem
Die vielleicht schärfste Kritik kam vom Virologen Professor Klaus Stöhr: “Die Zahlen, Daten, Fakten wurden während der Pandemie nicht gesammelt.” Diese Aussage klingt zunächst überraschend, wurden doch täglich Inzidenzen, Hospitalisierungsraten und Todesfälle veröffentlicht. Doch Stöhr zielt auf etwas anderes ab: Die systematische Erfassung von Daten zur Wirksamkeit der Maßnahmen.
Aus seiner Sicht fehlte ein “begleitendes Forschungskonzept”, um die Effektivität der ergriffenen Maßnahmen wissenschaftlich zu evaluieren. Er kritisiert: “Man kann aus der Hüfte schießen zum Anfang der Pandemie, aber da muss man auch gucken, wo die Kugel hingeht.”
Seine Beispiele sind durchaus beunruhigend:
- Die Kontaktnachverfolgung wurde bis Mai 2022 durchgeführt – ohne Evaluation, wie viele Infektionen dadurch tatsächlich verhindert wurden
- 500 Millionen Euro wurden für die Vernichtung überschüssiger Masken ausgegeben
- 280 Millionen Impfdosen mussten vernichtet werden
- Frühe Erkenntnisse, etwa zu den geringeren Risiken für Kinder, wurden seiner Meinung nach nicht ausreichend in Entscheidungen einbezogen
Professorin Büx stimmte diesem Kernpunkt überraschend zu: “Was diese Datensammlung anbelangt, möchte ich wahnsinnig zustimmen.” Sie verwies darauf, dass auch der Deutsche Ethikrat im April 2022 eine “sehr viel bessere und vor allem auch digitale Datensammlung” gefordert hatte.
Diese Kritik an der mangelnden Datenerhebung und -auswertung deckt sich mit den Erfahrungen vieler Long-COVID-Betroffener. Auch bei Ich bin kein Einzelfall erleben wir täglich, wie wichtig fundierte Daten für die Anerkennung und Behandlung von Post-COVID-Erkrankungen sind.
Die vergessene Generation: Kinder und Jugendliche
Einer der emotionalsten Momente der Diskussion betraf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Professorin Büx räumte ein, dass der Ethikrat erst im November 2022 – viel zu spät – eine Empfehlung zum Umgang mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen herausgegeben hatte.
Sie nannte es “unerwiderte Solidarität den Jungen gegenüber” und erklärte: “Wir haben das nicht nur wir vom Ethikrat, sondern wir als Gesellschaft nicht ausreichend gesehen.” Ihre Erklärung: Nach dem ersten Lockdown hätten Studien gezeigt, dass die junge Generation diesen “erstaunlich gut weggesteckt” habe. Erst mit der Dauer der Einschränkungen seien die Belastungen immer größer geworden.
Professor Stöhr widersprach dieser Darstellung vehement: “Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft sich ein Vorwurf machen muss, dass sie das zu wenig gesehen hat mit den Kindern und Jugendlichen. Das sind die Entscheidungsträger, die haben die Verantwortung.”
Er betonte, dass bereits früh ausreichend Daten zur Verfügung gestanden hätten: “In Deutschland hat man ungefähr die Schulen so geschlossen wie in anderen [Ländern], da liegen wir so ungefähr im Mittelfeld – ist ja auch nicht richtig. Diese 76 Tage Schulschließung, glaube ich, waren das, und über 170 Tage, wo man dann teilweise die Schulen geschlossen hat.”
Ein interessanter Punkt, den Professorin Büx anführte: In Deutschland habe die Politik entschieden, keine Homeoffice-Pflicht einzuführen (wie etwa die Schweiz), sondern stattdessen Schulen zu schließen. “Irgendetwas musste zu den Zeiten immer jeweils gemacht werden”, so Büx.
Die Belastungen für Kinder und Jugendliche während der Pandemie finden eine Parallele in den Erfahrungen vieler junger Long-COVID-Betroffener, die heute in unserer Community Unterstützung suchen.
Die Isolierung der Alten: Eine ethische Grenzüberschreitung?
Ein weiterer kritischer Punkt war der Umgang mit älteren Menschen in Pflegeheimen. Auf die Frage, ob sie Senioren in Alten- und Krankenhäusern wieder so “abrigeln und alleine lassen” würde, antwortete Professorin Büx:
“Das war wirklich fürchterlich. Da sind auch sehr, sehr schwere Verletzungen einfach erfolgt, auch bei Angehörigen, die ihre Lieben da nicht mehr im Tod begleiten konnten.”
Sie verwies darauf, dass der Ethikrat im Dezember 2020 darauf hingewiesen hatte, dass ein “Mindestmaß an sozialen Kontakten” gewährleistet werden müsse. In Rheinland-Pfalz sei es sogar zu Vorgehensweisen gekommen, “bei denen man sagen könnte, das waren tatsächlich Menschenwürdeverletzungen.”
Diese schmerzhafte Realität kennen wir bei Ich bin kein Einzelfall nur zu gut. Viele unserer älteren Mitglieder litten nicht nur unter sozialer Isolation, sondern entwickelten nach COVID-Infektionen schwere Long-COVID-Symptome, die ihre ohnehin prekäre Situation noch verschlimmerten.
Impfpflicht für medizinisches Personal: Eine gespaltene Debatte
Die Impfpflicht für medizinisches Personal, die in Deutschland eingeführt wurde, bewerteten beide Experten kritisch, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Professor Stöhr stellte die internationale Perspektive dar: “Deutschland nimmt auch hier eine besondere Stellung ein. Wir haben damals für eine Analyse der WHO eine Analyse gemacht: Impfpflicht medizinisches Personal gegen Influenza – Deutschland eines der Länder mit der geringsten Impfrate und mit der höchsten Resistenz. In anderen Ländern ist das normal, dass die sich impfen lassen.”
Dennoch hätte er während der Pandemie “einen größeren Spielraum für eine eigene Entscheidung” gelassen und “mehr Informationen für die Überzeugung” angeboten. Sein Fazit: “Impfpflicht aus meinem Blickwinkel, auch für das medizinische Personal, war nicht der richtige Weg.”
Diese Diskussion berührt auch die Erfahrungen vieler in unserer Community. Bei Ich bin kein Einzelfall unterstützen wir sowohl Menschen mit Long COVID als auch diejenigen, die mit Impfnebenwirkungen zu kämpfen haben. Unsere Erfahrung zeigt, dass Zwang selten die beste Lösung ist und differenzierte Ansätze nötig sind.
Medienberichterstattung: Zu einseitig und alarmistisch?
Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion war die Rolle der Medien während der Pandemie. Eine Studie von Medienwissenschaftlern aus München und Mainz, die mehr als 5.000 Beiträge aus elf deutschen Leitmedien untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass die Medien “viele Corona-Maßnahmen überwiegend als angemessen oder auch nicht als ausreichend darstellten und negative Nebenfolgen oder Maßnahmenkritiker kaum berücksichtigten”.
Besonders häufig kamen demnach “Pandemieerklärer” wie Henrik Streeck oder Christian Drosten zu Wort, später Karl Lauterbach mit seiner “warnenden Stimme”. Insgesamt sieht die Studie deutsche Medien eher im “Team Vorsicht”.
Professor Stöhr fand deutliche Worte zur Medienberichterstattung: “Die Medien haben einen ähnlichen Fehler gemacht wie die Politik – man hat keinen strukturierten Prozess der Wissensbeschaffung etabliert.” Er sprach gar von einer “Pandemie der wissenschaftlichen Überheblichkeit, aber auch der medialen und der politischen Ignoranz”.
Sein Vorwurf: Es sei nicht richtig, dass “einige wenige Personen so viel Öffentlichkeitspräsenz und Öffentlichkeits- auch Entscheidungsfindung auf sich konzentrieren”.
Professorin Büx hielt sich mit direkter Kritik zurück, wies aber darauf hin, dass der Ethikrat in einer Stellungnahme betont habe, wie wichtig ein “Pluralismus” der Stimmen sei. Gleichzeitig erinnerte sie daran, dass parallel zur Berichterstattung in den “seriösen Medien” in sozialen Medien und auf digitalen Plattformen “alles voller Kritik” gewesen sei und es dort “auch viel an Falschmeldungen und an verzerrten Informationen” gegeben habe.
Diese Medienkritik ist besonders relevant für unsere Arbeit bei Ich bin kein Einzelfall. Wir erleben täglich, wie wichtig ausgewogene, evidenzbasierte Berichterstattung über Post-COVID-Syndrome ist und wie schädlich Falschinformationen sein können.
Was können wir für die Zukunft lernen?
Die abschließende Frage der Moderatorin war die vielleicht wichtigste: Was müssen wir für die Zukunft lernen?
Professorin Büx nannte drei wesentliche Punkte:
- Bessere Datensammlung und Digitalisierung
- Eine andere, professionellere Form der wissenschaftlichen Politikberatung
- Eine andere Kommunikation: “Dass man Maßnahmen anders erklärt, dass man die Leute anders mitnimmt, dass man stärker darauf hört, wenn es bestimmte Widerstände gibt, dass man auch ein bisschen wirbt und dass man vielleicht so eine Gemeinsamkeit etwas betont.”
Als positives Beispiel nannte sie Dänemark, das “wahnsinnig gut durch die Pandemie gekommen” sei, weil es die Bewältigung der Krise “sehr viel stärker als etwas Gemeinsames verstanden” habe.
Professor Stöhr betonte die Notwendigkeit einer gründlichen Aufarbeitung: “Das Entscheidende, was passieren muss, ist die Aufarbeitung. Also muss ja ergebnisoffen, vorteilsfrei und nicht auf die Person gerichtet analysieren, was gut gelaufen ist.” Sein Argument: “Erfolg zu haben heißt ja nicht, dass man alles richtig macht, sondern dass man dieselben Fehler nicht noch mal generiert.”
Er warnte eindringlich: “Wenn das nicht passieren wird, dann ist die nächste Pandemie vielleicht in 20 Jahren – alle Leute, die Entscheidungsfinder waren, die gelernt haben, werden dann nicht mehr existieren. Und wenn die neue Generation dann das wieder so macht, mit neuen Experimenten, den alten Pandemieplan beiseite legt, dann wird’s wieder so laufen.”
Was bedeutet das für unsere Community?
Die intensiven Debatten um die Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen berühren uns bei Ich bin kein Einzelfall auf besondere Weise. Viele unserer Community-Mitglieder tragen die direkten Folgen der Pandemie in Form von Long COVID oder Post-Vac-Syndromen, während gleichzeitig die psychischen und sozialen Folgen der Pandemie-Maßnahmen ihre Gesundungschancen beeinflussen.
Die im ZDF-Gespräch identifizierten Versäumnisse – mangelnde Datenerhebung, unzureichende Evaluierung von Maßnahmen, die zu späte Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen – finden ihre direkte Entsprechung in der aktuellen Situation von Long-COVID-Betroffenen:
- Mangelnde Daten: Noch immer fehlt es an systematischen Daten zu Prävalenz, Verlauf und Behandlungserfolgen bei Long COVID
- Keine ausreichende Forschungskoordination: Die Forschungsanstrengungen sind fragmentiert
- Späte Reaktion: Zu lange wurden die langfristigen Folgen von COVID-19 unterschätzt
Die Lehren aus der Pandemiebewältigung bieten aber auch Hoffnung für die Zukunft:
- Bessere Datensammlung: Die Erkenntnis, dass Deutschland bei der digitalen Datenerhebung aufholen muss, könnte auch die Versorgung von Long-COVID-Patienten verbessern
- Interdisziplinäre Ansätze: Die Forderung nach vielfältigeren Expertenstimmen entspricht unserem Verständnis von Long COVID als multisystemische Erkrankung
- Mehr Gemeinschaftssinn: Eine Gesellschaft, die Krisen gemeinsam angeht, wird auch mehr Verständnis für Betroffene chronischer Erkrankungen aufbringen
Eine persönliche Schlussfolgerung
Die Diskussion bei “ZDF heute live” zeigt eindrücklich: Eine ernsthafte Aufarbeitung der Pandemie steht in Deutschland noch am Anfang. Die wissenschaftlichen und ethischen Fragen sind komplex, und sogar Experten kommen zu unterschiedlichen Bewertungen.
Für uns als Community ist wichtig festzuhalten: Es geht nicht um Schuldzuweisungen oder darum, im Nachhinein alles besser zu wissen. Es geht um ein ehrliches Bemühen, aus gemachten Erfahrungen zu lernen – für den Umgang mit zukünftigen Gesundheitskrisen, aber auch für den aktuellen Umgang mit den Langzeitfolgen der Pandemie.
Die mangelnde Evaluation von Maßnahmen, die Professor Stöhr so scharf kritisiert, darf sich nicht wiederholen, wenn es um Behandlungsansätze für Long COVID geht. Die verspätete Aufmerksamkeit für die Belastungen von Kindern und Jugendlichen muss uns mahnen, heute besonders auf die jungen Long-COVID-Betroffenen zu achten. Und die Erkenntnis, dass Dänemark mit seinem gemeinschaftsorientierten Ansatz besser durch die Pandemie kam, sollte uns motivieren, auch den Kampf gegen Long COVID als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen.
Eines wurde in der ZDF-Sendung überdeutlich: Eine Gesellschaft kann nur dann gut für die Zukunft lernen, wenn sie bereit ist, offen und selbstkritisch auf die Vergangenheit zu schauen. In diesem Sinne sollten wir Diskussionen wie diese begrüßen – auch wenn sie manchmal unbequem sind.
In diesem Sinne: Bleiben wir verbunden, bleiben wir informiert – und geben wir niemals auf. Denn du bist nicht allein, ich bin kein Einzelfall.
Quelle: ZDF heute live – “Fünf Jahre Corona: Bilanz der Pandemie” mit Ex-Ethikratsvorsitzender und Virologe